In Nomine Mortis
Heinrichs von Lübeck
wusste.
Selbst der Inquisitor war
blass geworden. »Wir müssen unbedingt wissen, wer dieser Vagant
war«, flüsterte er mir zu. »Und woher Honore diese
Geschichte hat«, setzte ich ebenso leise hinzu. »Soll ich
eilen und einen Sergeanten holen, auf dass er diesen Honore in den Kerker
werfe?«, fragte ich eifrig. Doch Meister Philippe schüttelte
den Kopf. »Vorerst nicht. Honore ist der Held der Männer hier,
sie würden ihn mit Fäusten, Knüppeln und Spießen
verteidigen. Du bräuchtest eine Hundertschaft Landsknechte und nicht
nur einen Sergeanten, um ihn mit Gewalt fortzuschaffen. Außerdem
will ich alles vermeiden, was zusätzliche Aufmerksamkeit auf das
tragische Schicksal Heinrichs von Lübeck lenkt. Ich habe eine bessere
Idee: Irgendwann wird Honore ermüden und mit seinen Fabliaux aufhören.
Und irgendwann wird er die ›Rote Hand‹ verlassen. Und dann«,
der Inquisitor lächelte mich plötzlich an, »dann werden du
und ich, mein junger Bruder, diesem Geschichtenerzähler folgen, und
sei es bis ans Ende der Welt.«
*
Und so war es. Zumindest
beinahe, denn wenn wir Honore auch nicht bis ans Ende der Welt folgten, so
doch bis in den Vorhof der Hölle.
So unvermittelt, wie er
begonnen hatte, so plötzlich endete der Vortrag jenes seltsamen, sündigen
Propheten mit dem Feuer im Körper auch. Honore war erschöpft,
kletterte schwankend vom Tisch und achtete scheinbar nicht auf die beifälligen
Rufe und den nun wieder einsetzenden allgemeinen Lärm, mit dem die Gäste
ihn feierten. Irgendjemand reichte ihm einen Krug mit schäumendem
Starkbier, den er in einem Zug leerte. Die Kupfermünzen, die man ihm
von allen Seiten aufdrängte, steckte er gleichmütig in einen
ledernen Beutel an seinem Gürtel. Dann verließ er, halb
hinkend, halb schwankend, die »Rote Hand«. »Ihm nach!«,
flüsterte mir der Inquisitor zu.
Wir hüllten uns noch
enger in unsere Umhänge und standen eilig auf. Es war nicht leicht,
Honore zu folgen. Zwar war sein Gang schleppend, sodass wir uns nicht sehr
eilen mussten, doch zogen noch immer Nebelschleier durch die Gassen, die
unseren Augen Trugbilder und Täuschungen vorgaukelten, Schemen,
Geister und verlorene Seelen.
Honore wankte durch die
Gassen, bis er die große Rue Saint-Denis erreichte, auf die er
stadtauswärts einbog. Meister Philippe und ich mussten unsere
Anstrengungen verdoppeln. Denn hier drängten sich Hunderte
gesichtslose, wegen des Nebels dick eingehüllte Gestalten, die alle
gleich aussahen.
Wir wagten nicht, mehr als
ein paar Schritte Abstand zu Honore zu halten, aus Angst, ihn aus den
Augen zu verlieren. Ich flehte den HERRN an, dass der Mann sich nicht plötzlich
umdrehen und uns bemerken würde. Was hätten wir dann getan? Ihn
ergriffen? Mich schauderte bei dem Gedanken, die vom Antoniusfeuer
verbrannte Hand, die schwärzlichen Klauen berühren zu müssen.
Doch wenigstens dieses Mal erhörte GOTT meine Gebete. Honore schritt
langsam die Rue Saint-Denis hinunter, bis er an das gleichnamige Tor kam.
Ohne zu zögern ging er weiter — und wir folgten ihm auf der
Landstraße, hinaus aus Paris.
»Ich glaube, ich weiß,
wohin er will«, flüsterte mir der Inquisitor zu. »Du
wirst deine Seele wappnen müssen vor dem Anblick der Finsternis«,
warnte er mich.
Es verging wohl eine halbe
Stunde - der Nebel beschränkte nicht nur meine Sicht, er schien auf
eine seltsame Art auch mein Gefühl für die Zeit zu täuschen,
sodass ich bis heute nicht sicher bin, wie lange wir Honore nun wirklich
über die Straße gefolgt waren —, bis wir den Weiler La
Villette erreichten. Und dort erhob sich, zur Linken der Straße,
eine Kirche, deren Kreuz auf der Turmspitze grotesk verbogen war. Das Haus
GOTTES war von einer hohen Mauer umwallt, über deren Krone ich nur
die Dächer zweier weiterer, lang gestreckter Gebäude erkennen
konnte. »Das Leprösenhospiz«, flüsterte ich.
Meister Philippe nickte düster.
»Die Mönche von Saint-Lazare nehmen sich der Aussätzigen
an — und all jener, denen der HERR schreckliche Spuren in den Körper
gegraben hat. Wer Aussatz hat, der darf das Geviert der Mauern niemals
mehr verlassen. Doch die anderen können sich frei bewegen. Es überrascht
mich nicht, dass ein Mann wie Honore hier Unterschlupf findet.
Saint-Lazare ist weithin bekannt dafür, dass die Gebete, die in
seiner Kirche
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