Insel der Verlorenen Roman
ausging, würde sie nie erfahren. Wenn sie ihre Arbeit getan hatte, konnte sie jedenfalls Ceely und England den Rücken kehren. Sie war noch immer schön, und man sah ihr nicht an, dass sie schon dreißig war. Mit dem Geld, das sie von Ceely noch bekam, und dem Geld, das er ihr in den vergangenen vier Jahren gezahlt hatte, konnte sie das schreckliche Land verlassen, in ihre geliebte Gironde zurückkehren und dort wie eine richtige Dame leben!
Sie schlief eine Stunde. Dann setzte sie sich auf und rüttelte Richard wach. »Richard! Richard! Ich’abe eine Idee!«
Richard hatte einen schweren Kopf, und sein Mund war ausgetrocknet. Er stand auf und ging zu dem weißen Krug, in dem Annemarie Dünnbier bereithielt. Ein tüchtiger Schluck, und er fühlte sich etwas besser. Er wusste, es würde einige Tage dauern, bis er den Rum nicht mehr spürte. Wenn er überhaupt mit dem Rum aufhörte. Wollte er es?
»Was für eine Idee denn?« Er setzte sich wieder auf das Bett und legte das Gesicht in die Hände.
»Warum ziehen wir nicht einfach zusammen? Mrs Hale im Erdgeschoss zieht aus, und die Miete für beide Stockwerke kostet nur eine halbe Krone pro Woche. Wir könnten das Schlafzimmer unten einrichten, dann müssten wir nicht immer Treppen steigen, und Willy hier oben oder im Keller unterbringen. Er zahlt einen Schilling pro Woche, der ginge dann von unserer Miete ab. Es wäre so schön, richtig zusammenzuwohnen. Bitte sag Ja, Richard!«
»Ich habe keine Arbeit, Liebling«, sagte er durch seine Hände.
»Aber ich’abe … habe die Arbeit bei Mrs Barton, und du findest auch bald eine«, tröstete sie ihn. »Bitte, Richard! Was ist, wenn hier irgendein schrecklicher Mann einzieht? Wie soll ich mich vor ihm schützen?«
Er nahm die Hände vom Gesicht und sah sie an.
»Wir könnten sagen, wir seien verheiratet, das macht einen soliden Eindruck.«
»Verheiratet?«
»Nur um die Nachbarn zu beruhigen, cher Richard. Bitte!« Richard konnte keinen klaren Gedanken fassen, und vom Dünnbier war ihm etwas übel geworden. Er versuchte über den Vorschlag nachzudenken. Vielleicht war es tatsächlich die beste Lösung. Seinen Eltern im Cooper’s Arms wollte er nicht länger zur Last fallen, oder vielleicht hielt er es dort auch einfach nicht mehr aus. »Na gut«, sagte er.
Freudestrahlend hüpfte Annemarie im Bett auf und ab. »Morgen! Heute hilft Willy Mrs Hale beim Umzug, und dann kann er mir helfen. Morgen!«
Richards Eltern waren von seinen Umzugsplänen völlig überrascht. Sie tauschten einen Blick und beschlossen dann, nichts zu sagen. An diesem Abend trank Richard mehr Rum als jemals zuvor. Wenn er nach Clifton zog, würde er für seinen Alkoholkonsum zumindest teilweise bezahlen müssen.
»Vielleicht ist es gut so«, meinte Dick. »Hier kann ich meinem Sohn das Trinken nicht verbieten.«
Mag nickte. »Du hast Recht. Der Rum steht ja offen herum.«
Dick lieh seinem Sohn den Handwagen, mit dem sie sonst Sägemehl und Lebensmittel holten. Dann sah er zu, wie Richard grimmig-entschlossen zwei Kleiderkisten auflud. »Und deine Werkzeuge?«
»Behalte sie«, sagte Richard kurz angebunden. »In Clifton brauche ich sie nicht.«
Das Haus, in dem Annemarie Latour und Willy Insell wohnten, war das mittlere von drei aneinander gebauten Häusern in der Clifton Green Lane unweit des Jakobsbrunnens. Man konnte noch deutlich erkennen, dass die drei Häuser ursprünglich ein einziges Haus gewesen waren. Die engen Treppen verrieten, dass nachträglich Wände eingezogen worden waren, um drei getrennte Wohneinheiten zu schaffen und dadurch die Mieteinnahmen zu steigern. Die Bretter der Trennwände reichten zwar bis zur Decke,
waren aber schlampig eingebaut worden und voller Risse und so dünn, dass man die Stimmen der Nachbarn teilweise hören konnte. Nur Annemaries Dachstube erhob sich wie eine einzelne Augenbraue über den Rest des Gebäudes und bot dadurch sehr viel mehr Privatsphäre. Das fiel Richard allerdings erst auf, als Annemaries Bett schon eine Etage tiefer stand.
»Wenn wir uns lieben, bekommen das jetzt alle Nachbarn mit«, sagte er trocken.
Annemarie zuckte die Achseln. »Alle Welt liebt sich doch, cher Richard.« Sie hielt plötzlich inne und langte in ihre Handtasche. »Das’abe ich ganz vergessen. Ich’abe einen Brief für dich.«
Richard nahm den zusammengefalteten Bogen und betrachtete neugierig das Siegel. Er kannte es nicht. Der Brief trug freilich eindeutig und in der gestochenen Handschrift eines
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