Inside Occupy
verdanken.
So bleibt uns nichts anderes übrig, als die ganze Frage danach zu überdenken, wer »wir« eigentlich sind. Die Parole »Wir sind die 99 Prozent« war der erste Schritt in diese Richtung. Sie sollte es den Amerikanern ermöglichen, einander mit anderen Augen zu sehen. Dennoch, das allein genügte wohl kaum.
Eine revolutionäre Bewegung zielt nicht bloß auf eine Neuordnung der politischen und ökonomischen Beziehungen ab. Eine wahre Revolution muss stets auf der Basis des Common Sense operieren. In den USA hätte man gar nicht anders vorgehen können. Fast überall sonst auf der Welt gilt Amerika als die Heimat einer Philosophie des politischen Lebens, die in der Orthodoxie des freien Marktes gipfelt. Das beinhaltet eine Reihe von Annahmen darüber, was Menschen sind und was sie vom Leben wollen, den Glauben, dass alle gesellschaftlichen Probleme inWirklichkeit wirtschaftlicher Art sind, dass Demokratie der Markt ist und Freiheit das Recht, an diesem Markt teilzuhaben, beinhaltet ferner den Glauben, die Schaffung einer unablässig weiter wachsenden Welt voller Konsumüberfluss sei das alleinige Maß für den nationalen Erfolg. In gro ßen Teilen der Welt ist diese Philosophie als »Neoliberalismus« bekannt geworden. In den USA benutzen wir dieses Etikett eigentlich nicht. Wir können über die damit gemeinten Sachverhalte nur in der Sprache der Propaganda sprechen: »Freiheit«, »freier Markt«, »Freihandel«, »freie Marktwirtschaft«, der »American Way of Life«.
Klar, nicht selten verspotten wir derlei Ideen, aber um ihre Grundlagen infrage zu stellen, müssten wir radikal überdenken, was es eigentlich bedeutet, Amerikaner zu sein. Und das ist extrem schwierig. Denn die, die im Land den Ton angeben, haben all ihre Chips auf die ideologische Karte gesetzt – das heißt, sie haben eine Menge mehr Zeit und Energie auf den Aufbau einer Welt verwendet, in der es schier unmöglich ist, den Kapitalismus (selbst in seiner gegenwärtigen, besonders brutalen und räuberischen Form) als einzig praktikable Wirtschaftsform in Frage zu stellen, als darauf, eine tatsächlich tragfähige Form von Kapitalismus zu schaffen. Die Konsequenz: Während unser Imperium – vor allem unser Wirtschaftssystem – mit allen Symptomen eines bevorstehenden Kollapses vor sich hin stolpert, stehen die meisten von uns wie vor den Kopf geschlagen da, unfähig, sich auch nur die Möglichkeit einer Alternative vorzustellen.
Bestechung und die Moral des öffentlichen Lebens
6. Frage:
Wie kommt es, dass es in Amerika einen revolutionären Akt darstellt, die Rolle des Geldes in der Politik infrage zu stellen?
Wir haben eine Form von Kapitalismus geschaffen, der nicht mehr partnerschaftlich mit dem Staat zusammen-, sondern unmittelbar durch ihn arbeitet. Die mächtigsten und profitabelsten Firmen sind fast schon zu Fortsätzen der Staatsmacht geworden. Aber es gibt da noch eine tiefere Ebene. Das Prinzip, sich Einfluss kaufen zu können, durchdringt mittler weile jeden Aspekt unserer Kultur: Geld ist Macht und Macht im Grundealles. Bestechung ist, wie ein Philosoph sagen könnte, zu einem ontologischen Prinzip geworden – sie definiert unsere Erfahrung von Realität. Sie infrage zu stellen heißt deshalb, alles infrage zu stellen.
Ich benutze das Wort »Bestechung« durchaus befangen. Wie George Orwell vor langer Zeit schon gesagt hat, besteht der erste Hinweis auf die Korruptheit eines politischen Systems darin, dass die, die es verteidigen, die Dinge nicht beim richtigen Namen zu nennen vermögen. Nach dieser Maßgabe sind die Vereinigten Staaten heutzutage ganz außergewöhnlich korrupt. Wir unterhalten ein Imperium, das nicht als solches bezeichnet werden kann, wir fordern einen Tribut, den wir nicht als solchen bezeichnen können, und rechtfertigen das alles mit einer ökonomischen Ideologie, über die wir noch nicht einmal sprechen können. Euphemismen und Codewörter durchdringen jeden Aspekt der öffentlichen Debatte.
Das gilt nicht nur für die Rechte, die mit militärischen Begriffen wie »Kollateralschaden« operiert, sondern auch für die Linke. Man denke etwa an den Begriff der »Menschenrechtsverletzungen«. Oberflächlich betrachtet scheint er nicht unbedingt viel zu verhüllen. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde sich für Menschenrechtsverletzungen aussprechen. Aber es gibt hier durchaus verschiedene Grade der Mißbilligung. Vergleichen Sie einmal folgende Sätze:
»Im Interesse unserer
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