Inspector Alan Banks 06 Das verschwundene Lächeln
»Ich bin Peggy Graham.«
Es war ein geräumiges Zimmer, in dem einige Tische und Stühle standen. Ein schwarzes Brett war gespickt mit kopierten Meldungen, handgeschriebenen Notizen und gedruckten Ankündigungen von Konzerten, Kursen und Pauschalreisen. Ein paar Lehrer, die Zeitungen lasen, schauten bei seinem Eintritt kurz auf und senkten dann wieder ihren Blick. In einer Ecke des Raumes war eine mit Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine ausgestattete Küchenzeile eingebaut worden. An manchen Stellen der rauen, orange gestrichenen Wände hingen noch weitere Beispiele kindlicher Kunst.
»Ein bisschen übertrieben, nicht wahr?«, meinte Peggy Graham, als sie seinen umherschweifenden Blick bemerkte. »Ich persönlich könnte auf die orangefarbenen Wände verzichten, aber dieser Raum war früher mal ein Spielzimmer. Setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Wenn es keine Umstände macht«, erwiderte Banks.
Sie ging, um den Kaffee zu holen. Peggy Graham, so fiel Banks auf, war eine kleine, irgendwie an einen Vogel erinnernde Frau, die vielleicht vor kurzem erst von der Universität gekommen war. Ihr grauer Faltenrock bedeckte ihre Knie, über einer weißen Bluse trug sie eine dunkelblaue Strickjacke. Ihr mausgraues Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, eine große Brille ließ ihre Nase winzig wirken. Die Augen dahinter waren groß, blass und milchig blau und wirkten besorgt und ernsthaft. Ihre Lippen waren dünn, die Mundwinkel leicht nach unten gebogen. Sie war ungeschminkt.
»Tja«, sagte sie und setzte sich mit dem Kaffee neben ihn. Er wurde in einem Becher mit einem Bild von Big Bird serviert. »Das mit Gemma ist einfach schrecklich, nicht wahr? Einfach schrecklich.«
Sie sprach zu ihm wie zu einer Klasse Fünfjähriger, fand er, und ihr Mund bewegte sich so stark, dass es aussah, als führe sie eine Pantomime auf. Banks nickte.
»Was könnte nur passiert sein?«, fragte sie. »Haben Sie irgendeine Ahnung?«
»Leider nein«, antwortete Banks.
»Ich nehme an, selbst wenn Sie etwas wüssten, dürften Sie nichts sagen, nicht wahr?«
»Wir müssen sehr vorsichtig sein.«
»Natürlich.« Sie lehnte sich zurück, schlug ihre Beine übereinander und legte ihre Hände in den Schoß. Banks bemerkte den schmalen goldenen Ehering. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht genau. In solchen Fällen ist es zweckmäßig, so viel wie möglich über das Kind herauszufinden. Was ist Gemma für ein Kind?«
Peggy Graham schürzte ihre Lippen. »Tja, eine schwere Frage. Gemma ist ein sehr stilles Kind. Sie macht immer einen etwas verschlossenen Eindruck.«
»Inwiefern?«
»Sie ist einfach ... still. Oh, sie ist intelligent, sehr intelligent sogar. Sie kann außerordentlich gut lesen und ich glaube, wenn sie die Möglichkeit hätte, könnte sie auch sehr kreativ sein. Das Bild dort an der Wand ist von ihr.«
Banks ging zu der Buntstiftzeichnung, auf die Peggy gedeutet hatte. Sie zeigte ein Mädchen mit Zöpfen, das unter einer leuchtenden Sonne neben einem Baum auf einem Grasteppich stand. Die Blätter waren einzeln hellgrün ausgemalt, das Gras war mit gelben Blumen - vielleicht Butterblumen oder Löwenzahn - gesprenkelt. Das Mädchen, eine Strichfigur, stand einfach mit ausgestreckten Armen da. Banks fand das Bild etwas verstörend, außerdem fiel ihm auf, dass das runde Gesicht des Mädchens keine Züge und keinerlei Merkmale enthielt. Er ging zurück zu seinem Stuhl.
»Sehr schön«, sagte er. »Hatten Sie jemals das Gefühl, dass ihr irgendetwas zu schaffen machte?«
»Sie macht immer einen ... nun, gedankenverlorenen Eindruck.« Peggy lachte nervös auf. »Ich nenne sie immer mein Kummerkind. Sie wirkt traurig auf mich. Ich habe natürlich versucht, mit ihr zu reden, aber sie sagt nie viel. Im Unterricht ist sie meistens aufmerksam. Ein- oder zweimal habe ich bemerkt, dass sie still vor sich hin weinte.«
»Wie haben Sie reagiert?«
»Ich wollte sie vor den anderen nicht in Verlegenheit bringen. Hinterher habe ich sie gefragt, was denn los gewesen sei, aber sie wollte nichts sagen. Gemma ist immer ein sehr verschlossenes Kind gewesen. Ich habe keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht. Die Hälfte der Zeit scheint sie in einer anderen Welt zu leben.«
»Einer besseren?«
Peggy drehte ihren Ring. »Ich weiß es nicht. Ich würde es gerne
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