Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
jedenfalls so weit bekannt ist.«
»Ist es auf jeden Fall unser Francis Henderson?«
»Ja, Sir.«
»Gut. Vielen Dank für den Anruf, Jim. Jetzt gehen Sie aber nach Hause.«
»Ja, ja, sicher.«
»Und geben Sie morgen noch mal die landesweite Anfrage raus, wenn Sie Zeit haben.«
»Mach ich. Bon voyage.«
* 14
Annie wartete auf dem Bahnsteig in York. Sie sah sehr geschäftsmäßig aus in einem dunkelblauen, knielangen Rock, einem Blazer mit silbernen Knöpfen und einer weißen Bluse. Sie hatte das Haar so streng zurückgebunden, dass es auf ihrer Stirn spitz zulief und die dunklen Augenbrauen nach oben zog. Doch fühlte sich Banks diesmal nicht schlechter gekleidet. Er trug einen leichten sommerlichen Anzug aus Baumwolle mit einer rot-grauen Krawatte. Der oberste Hemdknopf war geöffnet.
»Guter Gott«, sagte sie lächelnd, »ich hab das Gefühl, als ob wir uns zu einem verbotenen Wochenende treffen.«
Banks lachte. »Wer weiß, wenn du's richtig angehst ...«
Der Bahnhof roch nach Diesel und altem Ruß aus den Tagen der Dampflok. Mit ohrenbetäubendem Zischen schoss Pressluft unter den Zügen hervor, unter der hohen Decke flatterten Tauben. Ansagen über verspätet eintreffende oder abfahrende Züge echoten aus den Lautsprechern.
Der Zug nach London verließ den Bahnhof lediglich elf Minuten nach der veranschlagten Abfahrtszeit. Banks und Annie unterhielten sich eine Weile, der ratternde, wiegende Rhythmus beruhigte sie, und Banks stellte fest, dass, was auch immer Annie gestern am Telefon gestört hatte, jetzt nicht mehr von Bedeutung war. Ihm war verziehen worden.
Annie vertiefte sich in den Guardian, den sie im Bahnhof gekauft hatte, und Banks machte sich wieder an die Schuldigen Geheimnisse. In der letzten Nacht im Bett hatte er Der Schatten des Todes zugeklappt, als Detective Inspector Niven den ersten Verdächtigen verhaftete und sagte: »Sie haben das Recht zu schweigen. Wenn Sie keinen Anwalt haben, wird Ihnen einer gestellt.« So viel zur glaubwürdigen Beschreibung von Ermittlungsmethoden. Aber da es eins ihrer frühen Inspector-Niven-Bücher war und er fand, dass sie eine zweite Chance verdient hatte, fing er mit Schuldige Geheimnisse an, ihr jüngstes Buch ohne Niven, und hatte es kaum wieder aus der Hand legen können.
Im Grunde hatte man das Handlungsmuster schon ein Dutzend Mal im Fernsehen gesehen. Ein Mann, der im Ausland Urlaub macht, gerät in einer überfüllten Bar in eine heftige Auseinandersetzung. Er versucht, Ruhe zu bewahren, und verlässt schließlich das Lokal, doch der andere folgt ihm nach draußen und greift ihn an. Ein Fremder eilt ihm zu Hilfe und zusammen lassen sie sich hinreißen und prügeln den Angreifer zu Tode. Sie verstecken die Leiche und gehen danach getrennte Wege - der Vorfall ist vergessen.
Wieder in England, wird der Täter ein erfolgreicher Geschäftsmann und steht auf der Schwelle zu einer offenbar gleichermaßen erfolgreichen politischen Karriere. Bis der unvermeidliche Erpresser auftaucht. Was soll er tun? Zahlen oder wieder töten?
Trotz der dürftigen Handlung entpuppte sich Schuldige Geheimnisse als eine faszinierende Studie über Gewissen und Charakter. Aufgrund der Situation, in der sie sich befindet, ist die Hauptfigur gezwungen, ihr gesamtes Leben in Bezug auf das unentdeckte Verbrechen zu prüfen, während sie sich gleichzeitig damit quält, wie sie ihre Zukunft absichern soll.
Um es weiter zu verkomplizieren, geht das Töten diesem Mann nicht leicht von der Hand; er ist ein Menschenfreund und vertritt christliche Werte, ohne sie anderen aufzudrücken. Irgendwann kommt er zu dem Schluss, alles zu gestehen, um die Konsequenzen zu tragen, die er seiner Ansicht schon vor Jahren hätte akzeptieren müssen. Andererseits genießt er sein Leben. Er besitzt einen gesunden Egoismus, ist ehrgeizig, genießt seine Macht und glaubt aufrichtig, dem Land etwas Gutes tun zu können, hätte er die Möglichkeit dazu. Auch muss er an andere denken: Familie und Angestellte hängen von ihm ab und vertrauen ihm.
Unbarmherzig, aber voller Verständnis legt Vivian Elmsley Seite um Seite die Seele des Mannes bloß, deckt seine moralischen und seelischen Dilemmata auf und zieht das Netz um ihn enger. In seinen besten Tagen hatte Banks viele Männer verhaftet, die zum Schutz ihres unrechtmäßig erworbenen Ruhms oder Vermögens gemordet hatten, aber selten war er auf eine so komplexe
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