Inspektor Jury spielt Domino
einfach weggegangen und hab ihn seinem Schicksal überlassen.»
Versuch nicht, mir was weiszumachen, dachte Jury. «Sie haben also Miss Cavendish und einige andere gebeten, sich um ihn zu kümmern. Sie erzählten Miss Cavendish, daß Sie nach London fahren würden, stimmt das?»
Sie nickte eifrig, als spreche er jetzt ihre Sprache. «Sehen Sie, ich gebe ja zu, daß ich keine gute Mutter bin.» Sie lächelte grimmig, als werde durch dieses Eingeständnis alles geklärt. «Glauben Sie mir – ich wollte keine Kinder. Ich hab zu früh geheiratet. War erst achtzehn …»
Ihre Rechtfertigung glich dem Zelebrieren einer alten, bedeutungslos gewordenen Messe: langweilig und zur Genüge bekannt, da er diese oder ähnliche Geschichten schon zu oft gehört hatte: die schwierigen Umstände in ihrem Leben, in dem kleinen Fischerdorf. Eine gescheiterte Ehe mit einem nichtsnutzigen Kerl. Und immer das leidige Geld. Nur Ärger, keine Zukunftsperspektiven, und sie, die doch noch so jung war … Und dann Rackmoor selbst. Die fürchterliche Langeweile dort oben im Norden, keine Neonlichter, keine Unterhaltung, nichts. Ihre Begegnung mit Joey Cory, Ein gutaussehender Mann, der sie zum Lachen brachte und Geld hatte. Aber er wollte sie nicht mit Kind. Keine Kinder, sagte er.
«Sehen Sie, alles neu! Cory kauft immer alles neu. Wenn irgend etwas kaputtgeht oder schmutzig wird, dann schmeißen wir es einfach weg und kaufen es neu.» Ihr verkrampftes, schiefes Lächeln war triumphierend, als hätte sie einen Weg gefunden, das Haus zu überlisten.
Ein Wegwerfleben. Jury konnte sich vorstellen, daß die Tage in diesem Zimmer genauso aussahen wie die einzelnen Blätter eines Kalenders – unbeschrieben, kein einziger Eintrag. Er stand aus dem Sessel auf. «Und was macht er mit Ihnen, wenn Sie kaputt und schmutzig sind?»
Zornig sprang sie von der Couch auf; ihr schmales Gesicht glich einer weißen, kalten Flamme. Der Schlag, den sie ihm versetzte, ließ ihn zwar zurückweichen, tat aber kaum weh. Ihre Hand war so leicht, daß er sich eher wie die hysterische Berührung eines Vogelflügels anfühlte. Sie hatte sich damit nur selbst erschreckt. Sie fing die schuldige Hand mit der anderen ein. Er sah jetzt, wie dünn ihre Hände waren, dünn und blau geädert. Er wunderte sich über ihre Hagerkeit, über die einst sicher hübsch gerundeten Linien, die immer eckiger wurden. Die Wangen unter den Backenknochen wirkten schon richtig eingefallen.
«Sie haben kein Recht hierherzukommen und mir solche Dinge zu sagen», ihre Wut flackerte noch einmal auf. «Und ich vermute, daß Sie jetzt gleich zum Jugendamt gehen und denen alles brühwarm erzählen. Ich werde nicht nach Rackmoor zurückgehen, soviel kann ich Ihnen sagen. Wenn ich ihn nehmen muß, dann muß er schon hierherkommen und …» Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob sie Kopfschmerzen hätte. Diese Idee wurde offensichtlich durch den Gedanken an Cory in Frage gestellt.
«Ich werde nichts weitermelden», sagte Jury. «Ich will nicht, daß man Sie findet.»
Sie blinzelte und starrte ihn in der sich ausbreitenden Stille an. Sie wirkte jedoch nicht erleichtert. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Es war, als hätte sich ihr Leben lediglich in ein neues, schwieriges Puzzle verwandelt, das aus noch kleineren Gras- und Himmelsteilchen bestand, deren Farben verblaßt waren und die sich deshalb noch schwerer zusammensetzen ließen.
Jury dachte daran, wie Bertie sich bei ihr fühlen würde. Ihr Ärger darüber, ihn wie ein sperriges Gepäckstück an ihrer schmerzenden Hand mit sich schleppen zu müssen, würde ihn erdrücken. Jeder und nahezu alles wäre besser als sie: selbst Einsamkeit, Entbehrung, Mangel, Verlust. Verläßlicher, fühlbarer, etwas, wonach er die Hand ausstrecken konnte, um es anzufassen. Wohingegen Roberta Makepiece keine Person zu sein schien, die man anfassen konnte. In ihren sauberen dunklen Kleidern stand sie vor dem weißen Hintergrund wie ein zorniger Hieb, den ein Künstler seiner Komposition versetzt hat, weil er sie nicht mehr sehen kann.
«Was Sie tun werden, ist folgendes», sagte Jury. «Sie werden drei Briefe schreiben. Einen an Bertie – ihm werden Sie die Wahrheit schreiben; das, was Sie mir erzählt haben. Achten Sie darauf, daß Sie nicht lügen, nichts beschönigen oder ihm irgendwelche Hoffnungen machen. Außer der einen Hoffnung: daß er nie, unter keinen Umständen, in ein Heim kommen wird. Daß Sie ihm vorübergehend bei den Lügen
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