Inspektor Jury sucht den Kennington-Smaragd
also auch nie rausgekommen.» Er bemerkte, daß Emily mit großer Hingabe die Entchen nachfuhr. «In der Höhle hatten wir Ruhe vor unsern Alten.»
«Konntet ihr sie nicht leiden?» Emily hatte ihren Buntstift aus der Hand gelegt und starrte mit einem tiefen Stirnrunzeln auf das Buch.
«Na ja, manchmal ja, manchmal nein. Wir dachten uns die tollsten Geschichten aus, um zu erklären, wo wir gewesen waren und was wir gemacht hatten. Wenn wir völlig verdreckt oder mit kaputten Jacken nach Hause kamen, mußten wir ihnen ja irgendwas erzählen.»
«Wer hat sich diese Geschichte ausgedacht, Sie oder Jimmy Poole?»
Jury überlegte. «Jimmy Poole. Er war schlauer.»
«Warum ist er dann nicht beim Scotland Yard?»
Sie sah ihn an. Ein harter, fordernder Blick. «Ich hätte zu gerne eine Limonade.»
«Mr. Plant holt dir bestimmt eine.»
Melrose, der sich schlafend gestellt hatte, öffnete ein Auge und sagte: «Ich möchte aber keine Fortsetzung verpassen.» Seufzend erhob er sich.
«Erzählen Sie weiter», sagte Emily Louise und knuffte ihn in den Arm.
«Na ja. Jimmy Poole hat mir eine Menge seltsamer Dinge erzählt, und ich mußte schwören, nie jemandem was zu sagen. Aber dann ist diese Sache passiert.» Emily Louise preßte sich die ineinander verschränkten Hände gegen den Kopf, als wolle sie sich unter den Tisch drücken. «Eine Frau aus dem Dorf hatte einen … na ja, einen Unfall.»
Emily rutschte auf ihrem Stuhl herum. «War es schlimm?»
«Ziemlich schlimm. Sie ist die Treppe runtergefallen. Das heißt, vielleicht ist sie gefallen. Es gab Leute, die dachten, sie wurde gestoßen. Wir konnten aber keinen festnageln.» Jury studierte das glühende Ende seiner Zigarette.
«Ist denn die Polizei nicht gekommen?» Emily blickte Jury mit gerunzelter Stirn an, anscheinend völlig fassungslos, daß Englands berühmte Gesetzeshüter so pflichtvergessen sein konnten.
«Nein, nicht Scotland Yard.»
Emily schüttelte enttäuscht den Kopf, weil Jurys Dorfbewohner nicht so umsichtig gewesen waren, Scotland Yard zu holen.
«Sie hätten es vielleicht getan», sagte Jury, «wenn Jimmy Poole was gesagt hätte.»
Daraufhin breitete sich tiefes Schweigen aus, das nur von dem Klirren der Gläser unterbrochen wurde, die Melrose vor sie hinstellte. Eine Limonade und zwei Brandys. Emily nahm einen Schluck aus ihrem und sagte: «Aber er hat nichts gesagt?»
«Nein, aber ich.»
«Sie! Es war doch ein Geheimnis.»
«Ich weiß. Du kannst mir glauben – ich hab mir’s hin und her überlegt. Es war nur so – Jimmy Poole war krank, und ich konnte ihn nicht fragen, ob es auch in Ordnung war.»
«Was hatte er denn?»
«Mumps. Sein Hals war so dick, daß er nicht reden konnte.»
«Ist er gestorben?»
«Nein. Aber so lange wir nicht darüber reden konnten, konnte ich ihn auch nicht fragen, ob ich das Geheimnis verraten durfte. Ich mußte selbst eine Entscheidung treffen, und so was ist immer schwer. Ich meine, selbst was zu entscheiden. Und weißt du, was mich schließlich dazu gebracht hat?»
Emily schüttelte den Kopf unter den verschränkten Händen und starrte Jury gebannt an.
«Ich hatte Angst, noch jemand könnte die Treppe runtergeschubst werden. Oder daß die, die schon mal runtergestoßen worden war, noch einmal gestoßen würde.»
«Ist sie nicht gestorben?»
Jury schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Gut. Wem haben Sie es denn erzählt?»
«Dem Pfarrer. Der schien mir der Richtige zu sein.»
«Warum nicht dem Wachtmeister? Gab’s denn keinen in Ihrem Dorf?»
«Doch. Ich hatte aber Angst vor der Polizei.»
«Ich nicht!» posaunte sie heraus.
«Nein, du nicht. Ich weiß.»
Sie ließ den blauen Buntstift vor- und zurückrollen. «War Jimmy Poole böse auf Sie?»
«Nein. Er war froh. Er meinte, er hätte es auch gesagt, er konnte nur nicht.»
«Weil er Mumps hatte.» Jury nickte. Emily Louise blies ihre Backen auf und stupste mit dem Finger dagegen. Alle drei schwiegen – Melroses Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, Jury starrte aus dem Fenster, Emily pumpte Luft in ihre Backen und ließ sie wieder entweichen. Schließlich sagte sie: «Hat Ihnen Jimmy Poole mal was gegeben?»
Jury dachte einen Augenblick nach, drückte seine Zigarette aus und sagte: «Ja, hat er.»
Nach einer kurzen Pause fragte sie: «Und hat er Ihnen gesagt, Sie dürften es niemanden zeigen?»
«Ja.»
«War das, bevor er krank wurde?»
«Ja.»
«Was war es?»
«Eine Blechdose.»
«Was war drin?»
«Geld. Ein paar Briefe.
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