Internat auf Probe
die zerfetzte Jeans und das blauweiß geringelte T-Shirt hat er wieder an!
„Ich wohn jetzt hier“, sagt sie und zeigt aufs Schloss.
„Echt? Ist ja krass!“ Jonas reißt seine himmelblauen Husky-Augen auf. „Und? Wie isses so?“
„Na ja, ich bin erst seit zwei Wochen hier“, meint Carlotta, „aber es geht. Ich hab’s mir jedenfalls schlimmer vorgestellt.“
„Ist ja krass!“, wiederholt Jonas. Er fährt sich mit fünf Fingern durch die Haare und grinst noch breiter.
Carlotta sieht, dass er einen Schulrucksack auf dem Rücken trägt. „Gehst du hier im Internat zur Schule? In welcher Klasse bist du denn?“, fragt sie neugierig.
„Ich? Hier? Im Leben nicht!“, ruft Jonas. „Ich bin in der Sechsten, aber ich geh in der Stadt aufs Gymnasium. Da muss ich zwar jeden Tag mit dem Bus hinfahren, aber wenigstens komm ich mal raus. Nervt es dich nicht, rund um die Uhr hier eingepfercht zu sein?“
„Bis jetzt noch nicht“, sagt Carlotta ehrlich.
„Na“, lacht Jonas. „Der Lagerkoller kommt noch, garantiert!“
Vom Schlossturm erklingt die Mittagsglocke. „Upps, ich muss los! Sonst krieg ich kein Mittagessen mehr.“
„Ich auch!“ Carlotta lächelt Jonas zu und trabt schon los. „Wir sehen uns bestimmt bald mal wieder!“, ruft sie und winkt.
„Logo!“, ruft Jonas zurück. „Hier läuft man sich andauernd über’n Weg! Geht ja gar nicht anders“, fügt er noch hinzu.
„Manuela, du hast jetzt bereits zum vierten Mal keine Hausaufgaben gemacht. Gibt es dafür eine plausible Erklärung oder, noch besser, vielleicht sogar eine Entschuldigung?“ Frau Dorsch, Fachlehrerin für den Nachmittagsunterricht in Deutsch und Geschichte, steht vor Manus Platz, pocht mit einem Finger auf die Tischplatte und wartet auf eine Antwort.
Manu gähnt hinter vorgehaltener Hand. „Nicht wirklich“, sagt sie gelangweilt. „Eher nicht.“
Frau Dorsch macht ihrem Namen alle Ehre und schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann dreht sie sich um, marschiert mit kurzen Schritten zum Lehrerpult und zieht das Klassenbuch zu sich heran.
„Wie ich sehe, hast du schon einige Einträge, Manuela“, sagt sie frostig. „Es dürfte dir bekannt sein, dass wir von unseren Schülern ein gewisses Maß an Engagement, Verantwortungsbewusstsein und Mitarbeit erwarten. Auch eure Eltern erwarten das. Sie bezahlen viel Geld für eure Ausbildung.“ Schwungvoll setzt sie einen weiteren Eintrag hinter Manus Namen.
„Mir doch egal!“, sagt Manu laut. „Ich hab nicht darum gebeten, hier zu sein!“
Alle fahren erschrocken herum. Sogar Nadine und Simone vergessen zu tuscheln und starren die Mitschülerin an.
Mit einem lauten Knall klappt Frau Dorsch das Klassenbuch zu. „Ich werde Dr. Brönne informieren“, sagt sie. „Bitte melde dich nach der Stunde im Sekretariat und lass dir für morgen einen Termin beim Direktor geben.“
„Aber gerne doch“, grinst Manu.
Carlotta überlegt, ob sie der Zimmernachbarin unter dem Tisch einen Tritt geben soll, um sie zur Vernunft zu bringen, aber sie lässt es lieber bleiben. So, wie Manu gerade drauf ist, flippt sie womöglich komplett aus.
Mannomann, denkt Carlotta und versenkt die Nase im Deutschbuch. Was ist denn in die gefahren?
„Was ist denn in dich gefahren?“, fragt Brendan in der großen Pause. Er steht vor Manu und bietet ihr die Hälfte seines Müsliriegels an. „Bisschen unterzuckert, was?“
Manu schlägt seine Hand mit dem Müsliriegel weg und faucht ihn an: „Lass mich bloß in Ruhe!“
Brendan zieht die Augenbrauen zusammen und dreht sich wortlos um.
„Mensch, Manu …“, versucht Carlotta sie zu beruhigen. „Brendan hat dir doch gar nichts getan. Er hat’s doch nur gut gemeint.“
„Weiß ich selbst, stell dir vor!“, zischt Manu.
Carlotta sieht, dass sie Tränen in den Augen hat, und würde ihr gerne helfen, aber Manu wirft ihr einen so wütenden Blick zu, dass sie zurückzuckt. Auch Sofie, die Manu aufmerksam beobachtet hat, wendet sich schnell ab.
Du meine Güte, denkt Carlotta. Jetzt ist die Stimmung in unserem Zimmer ganz im Eimer. Ob man hier auch Einzelzimmer beantragen kann? Für den Notfall? Schön wär’s!
Den Nachmittag verbringt Carlotta vorsichtshalber an einem der Computer in der Schulbibliothek. Sie verspürt weder Lust auf Manus Muffeligkeit noch auf Sofies Schweigsamkeit. Lieber schreibt sie Mails an Papa und Katie und surft ein bisschen im Internet.
An den Wänden der Bibliothek hängen Ölgemälde und Stiche,
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