Inversionen
Nolietis Hals. »Der obere Teil des Kehlkopfes.«
»Wir nennen es ›oberer Teil des Kehlkopfes‹«, wies Doktor Skelim sie mit einem Schnauben zurecht. »Wir brauchen keine Fremdworte. Quacks und seinesgleichen gefielen sich darin, sie zu gebrauchen, als sie versuchten, die Leute mit ihrer Pseudoweisheit zu beeindrucken.«
»Doch wenn wir tiefer schauen«, sagte die Ärztin, wobei sie den Kopf der Leiche nach hinten bog und die Schultern teilweise von der Steinfläche hob. »Oelph. Würdest du bitte diesen Klotz hier unter die Schultern schieben?«
Ich hob ein Stück Holz, das wie der Miniatur-Hackblock eines Scharfrichters aussah, vom Boden auf und schob es dem Toten unter die Schultern. Mir war schlecht. »Halte sein Haar fest, sei so lieb, Oelph, ja?« sagte die Ärztin und drückte Nolietis Kopf noch weiter zurück. Es entstand ein klebrig-schmatzendes Geräusch, als sich die Wunde weiter öffnete. Ich griff nach Nolietis spärlichem braunen Haar und sah weg, während ich daran zog.
»Wenn wir tiefer schauen«, wiederholte die Ärztin, anscheinend völlig ungerührt, während sie sich näher über das Gewirr von vielfarbigem Gewebe und Röhren beugte, das Nolietis Kehle gewesen war, »erkennen wir, daß die Mordwaffe so tief eingeschnitten hat, daß sie die Spina des Opfers im oberen Bereich eingekerbt hat, hier, bei der dritten Zervikalvertebra.«
Doktor Skelim schnaubte wieder geringschätzig, doch aus dem Augenwinkel sah ich, daß er sich näher zu der Leiche hinbeugte. Ein plötzliches Würgegeräusch kam von der anderen Seite des Tisches, als der Schreiber von Wachkommandant Adlain sich schnell abwandte und sich über einen Abfluß krümmte, wobei sein Schieferbuch klappernd zu Boden fiel. Ich merkte, wie auch in mir Galleflüssigkeit hochstieg, und versuchte, sie wieder hinunterzuschlucken.
»Hier. Seht Ihr? Eingenistet in der Cartilage der Rima glottidis. Ein Splitter der Vertebra, der sich hier ablagerte, als die Waffe herausgezogen wurde.«
»Hochinteressant, davon bin ich überzeugt«, sagte Polchiek. »Was ist Eure Meinung dazu?«
»Die Richtung des Schnittes deutet darauf hin, daß der Mörder Rechtshänder war. Man kann mit größter Sicherheit davon ausgehen, daß in jedem Fall die rechte Hand benutzt wurde. Die Tiefe und das Eindringen deuten auf eine Person von beträchtlicher Körperkraft hin und untermauern nebenbei die Wahrscheinlichkeit, daß der Mörder seine Lieblingshand benutzt hat, denn selten ist jemand fähig, soviel Kraft so zielgenau mit der anderen als der Lieblingshand auszuüben. Auch der Winkel des Schnittes – die Schrägneigung der Wunde im Verhältnis zur Kehle des Opfers – läßt den Schluß zu, daß der Mörder einen guten Kopf größer gewesen sein muß als das Opfer.«
»Ach, du liebe Vorsehung!« empörte sich Doktor Skelim laut. »Warum reißen wir ihm nicht die Innereien heraus und lesen darin, wie die Priester in alten Zeiten, um den Namen des Mörders herauszufinden? Ich bin sicher, sie werden auf jeden Fall sagen ›Unoure‹, oder wie immer sein Name lautet.«
Doktor Vosill wandte sich zu Skelim um. »Versteht Ihr denn nicht? Unoure ist kleiner als Nolieti, und Linkshänder. Ich vermute, er verfügt über durchschnittliche Körperkräfte, vielleicht ein wenig mehr, aber er macht nicht den Eindruck eines besonders starken Mannes.«
»Vielleicht war er in Rage«, schlug Polchiek als Möglichkeit vor. »Menschen können unter gewissen Umständen übermenschliche Kräfte entwickeln. Ich habe gehört, daß dies vor allem an Orten wie diesem geschieht.«
»Und Nolieti kniete zu der fraglichen Zeit vielleicht gerade«, gab Doktor Skelim zu bedenken.
»Oder Unoure stand auf einem Schemel«, sagte Ralinge mit einer Stimme, die überraschend leise und zischend klang. Er lächelte.
Die Ärztin sah zu einer nahen Wand. »Nolieti stand an der Werkbank, als er von hinten angegriffen wurde. Blut aus der Halsschlagader spritzte zur Decke hinauf, und venöses Blut tropfte direkt auf die Bank. Er kniete keineswegs.«
Der Schreiber beendete seine Würgerei und hob sein zu Boden gefallenes Schieferbuch auf; er stand wieder aufrecht da und nahm seinen Platz am Tisch wieder ein, wobei er Polchiek einen um Verzeihung heischenden Blick zuwarf. Dieser schenkte ihm jedoch keine Beachtung.
»Meisterin«, wagte ich einen Vorstoß.
»Ja, Oelph?«
»Darf ich die Haare jetzt loslassen?«
»Ja, natürlich, Oelph. Entschuldige bitte.«
»Wen interessiert es schon, wie Unoure
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