Irgendwo dazwischen (komplett)
obwohl ich
weiß, dass ich mehr zu bieten habe als eine nette Figur. Ich habe aufgehört,
mich anders zu sehen. Ich habe die Vorurteile anderer verachtet und
gleichzeitig erfüllt. Ich habe Leni Timo ausgespannt. Ich habe mich von Clemens
einladen lassen, obwohl ich wusste, dass Lili ihn mag. Und ich denke nur an
mich.
Das Schlimmste ist, dass ich so unglücklich bin und es niemandem
sagen kann, weil ich weder mit Elias noch mit Lili reden kann. Und auch das
habe ich mir ausgesucht.
Langsam stehe ich auf und gehe zu meinem Schreibtisch, wo immer
noch ein leeres Stück Papier auf mich wartet. Ich setze mich hin und starre es
an. Dann nehme ich den Stift und lege ihn auf die erste Zeile, so als hoffte
ich, dass er dann schon anfangen würde, von selbst zu schreiben. Es gäbe viel
zu schreiben. An Lili, an Leni, an Elias und an Stefan. Jedem würde ich gerne
etwas sagen. Bei jedem würde ich mich gerne entschuldigen. Doch es scheint so,
als wäre es in allen vier Fällen zu spät. Es ist genauso, wie wenn jemand
niest. Es gibt ein Zeitfenster, in dem man Gesundheit sagen kann. Und
dieses Fenster ist klein. Wenn man es nicht in diesen paar Sekunden gesagt hat,
geht es nicht mehr. Es ist einfach zu spät. Mit Entschuldigungen ist es
ähnlich.
Das mit Timo ist schon zwei Jahre her. Und ich kann nicht einmal
mehr genau sagen, wieso ich es getan habe. Ich wollte nichts von ihm. Ich hatte
keine Gefühle für ihn. Ich denke, ich habe es getan, weil Leni immer die ist,
die alles hinbekommt. Ich denke, ich habe es tatsächlich getan, um ihr
wehzutun. Und ich weiß nicht mehr, warum. Leni hat mich nie verletzt. Sie hat
immer zu mir aufgeschaut. Zu mir, ihrer großen Schwester.
Und dann fällt es mir plötzlich wieder ein. Ganz plötzlich weiß
ich es wieder. Leni sitzt mit meinen Eltern am Esstisch. Ich komme in die
Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Und das war mein Fehler. Wäre ich doch
einfach in meinem Zimmer geblieben. Oder hätte ich Wasser aus der Leitung im
Bad genommen. Doch ich bin in die Küche gegangen. Und als ich durch die Tür
komme, höre ich sie im Nachbarzimmer reden. Und sie reden über mich. Und wenn
man über mich redet, sind das meistens keine schönen Gespräche. Ich weiß es
wieder. Mein Vater hat gesagt, dass er nicht weiß, wie er mir helfen soll, weil
ich schließlich nichts dafür könne, dass ich nicht so intelligent bin wie meine
Geschwister. Er wünschte, er könne etwas tun, doch das läge nicht in seiner
Macht. Und meine Mutter stimmt ihm zu. Es ist nur ein kleiner Laut, doch es ist
Zustimmung. Ich stehe vor dem Kühlschrank und rühre mich nicht. Dann höre ich
Leni, die mich verteidigt. Und ich kann nicht sagen, warum, doch das ist die
größte Demütigung. Dass sie mich in Schutz nimmt. Sie, die perfekte Tochter.
Mein Vater ist gerührt von ihrer Einfühlsamkeit. Und meine Mutter sagt nichts.
Und dann sagt mein Vater, was ich nie wusste, was sie immer vor mir geheim
gehalten haben. „Weißt du, Leni, deine Schwester hatte nicht die Noten fürs
Gymnasium. Es hat mehr als nur überzeugende Worte gebraucht, dass sie heute
ist, wo sie ist... Und sie weiß es nicht zu schätzen. Vielleicht haben wir sie
überfordert. Vielleicht hätte sie es an einer weniger anspruchsvollen Schule
einfach leichter.“ Ich gebe keinen Laut von mir. Stille Tränen laufen über
meine Wangen. Sie sind schwer wie Blei. Sie sind gefüllt mit Enttäuschung.
Enttäuschung darüber, dass meine Eltern mich nicht sehen. Ich bin inmitten
meiner Geschwister nicht existent. Sie reduzieren mich auf Noten und Leistung.
Und Leni sitzt dazwischen. Und dieses Mal ergreift sie nicht meine Partei,
sondern schweigt.
Einige Tage später werden wir uns streiten, und sie wird mir
sagen, dass ich minderbemittelt bin. Und ich werde eine Woche später mit Timo
schlafen, um ihr heimzuzahlen, dass sie es gewagt hat, in meinen wundsten Punkt
zu stechen. Und während ich mit ihm schlafe, werde ich den Gedanken genießen,
dass sie leidet. Weil sie es verdient hat.
Lili
„ Notting Hill ? Der ist gut. Willst du das Ende noch
sehen?“, fragt er mich relativ unvermittelt.
„Dir gefällt Notting Hill ? Ehrlich?“
„Ich weiß, das ist nicht besonders männlich, aber ja, ich mag den
Film ganz gern. Wollen wir das Ende noch anschauen?“, und er fragt das so, als
würde er es wirklich ansehen wollen.
„Sicher... aber nur, wenn du auch wirklich willst...“ Wortlos
schiebt mich Elias zum Sofa und wir wickeln uns in meine
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