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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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geraume Zeit mehr, um mit den komplizierten Schnürbändern meiner Schuhe zu kämpfen, was ich nicht einmal schauspielern musste. Meine Finger zitterten so heftig, dass ich mit dieser einfachen Aufgabe schon fast überfordert war. Ich hatte lange geschlafen – schließlich war das so ziemlich das Einzige, was ich hier überhaupt tun konnte –, fühlte mich aber matt und wie gerädert. Ich hatte auch in der zurückliegenden Nacht wieder geträumt und war sehr froh, mich nicht wirklich daran zu erinnern; allenfalls dass da ein vager Eindruck eines dunklen Augenpaares war, das mich verzweifelt um eine Hilfe anflehte, die ich nicht leisten konnte.
    Noch dazu erwies sich meine kleine Retourkutsche als vollkommen wirkungslos. Mulligan stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor der demolierten Gittertür und starrte, ohne zu blinzeln, ins Leere. Mir wurde zu spät klar, dass Warten vermutlich die Tugend war, die ein Pfleger in einer Einrichtung wie dieser am dringendsten benötigte. Auf einen Wettkampf in Sturheit sollte ich mich mit ihm besser nicht einlassen.
    Ich erwartete, dass er nun das Gitter öffnen und vorausgehen würde, doch stattdessen machte er eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der ich kam, und steuerte die Tür zum Kellergeschoss an. Ich wollte ganz bestimmt nicht noch einmal dorthin – nicht nach allem, was ich in diesen unheimlichen Gewölben bisher erlebt hatte –, aber noch viel weniger wollte ich allein hier zurückbleiben. Und vielleicht hatten Nikola oder der Doktor ja etwas von Allison gehört.
    »Wissen Sie, warum Watson mich sehen will?«, platzte ich denn auch heraus, kaum dass wir die ersten beiden Stufen hinter uns gebracht hatten.
    »Nein«, sagte Mulligan einsilbig. Doch diesmal gedachte ich ihn nicht so einfach davonkommen zu lassen.
    »Und hat er Ihnen auch verboten, mit mir zu sprechen?«, fragte ich. Mulligan sah mich nur verstört an und schüttelte den Kopf. Ich fuhr fort: »Warum tun Sie es dann?«
    »Was?«, fragte Mulligan.
    Ich hielt auf halber Höhe der Treppe an und redete mir mit Erfolg ein, dass ich es nicht hauptsächlich deshalb tat, weil mir die Dunkelheit an ihrem unteren Ende Angst machte. »Sie gehen mir aus dem Weg, Mulligan«, sagte ich geradeheraus. »Das ist Ihr gutes Recht. Aber dann nennen Sie mir wenigstens den Grund. Wenn ich etwas falsch gemacht oder Sie beleidigt habe, dann tut es mir aufrichtig leid, aber geben Sie mir wenigstens die Chance, mich zu entschuldigen.«
    Mulligan sah nun endgültig so verstört aus, dass er mir unter anderen Umständen einfach nur leidgetan hätte. »Ich habe nicht …«, begann er unsicher, »ich meine, das … das ist es nicht.«
    »Sondern? Ist es wegen dem, was wir dort unten erlebt haben?«
    Mulligan schüttelte den Kopf und nickte und hob unglücklich die Schultern, alles in einer einzigen Bewegung. »Doktor Watson hat es mir erklärt. Aber ich … bin nicht sicher, ob ich es verstanden habe.«
    Was daran liegen mochte, dass niemand es verstand, dachte ich, abgesehen vielleicht von Nikola. Aber ich war neugierig. »Was genau hat er Ihnen denn erzählt?«
    »Nur dass es da … eine große Gefahr gibt«, antwortete er nervös. »Etwas Schlimmes, das uns alle bedroht.«
    Das kam der Wahrheit ziemlich nahe – auch wenn es sie zugleich hoffnungslos verharmloste –, aber es waren auch genau jene Art von Gemeinplätzen, wie ich sie Watson eigentlich nicht zugetraut hätte. »Und das ist alles?«, fragte ich enttäuscht.
    Diesmal war Mulligans Bewegung noch komplizierter. »Der Professor hat auch noch eine Menge gesagt, aber das habe ich auch nicht verstanden. Und der Junge.«
    »Chip?«
    »Er ist mir unheimlich«, bestätigte Mulligan.
    »Was hat er Ihnen denn so Unheimliches erzählt?«
    »Er spricht nicht.« Mulligan ging weiter, bevor er fortfuhr. »Aber ich bringe ihm Essen und saubere Kleider, und manchmal redet er im Schlaf. Meist sinnloses Zeug, das niemand verstehen kann. Aber was ich verstehe, das … das macht mir Angst.«
    Und das vermutlich zu Recht. Aber ich spürte auch, dass er abzuschweifen begann, und ging drei oder vier Stufen schweigend neben ihm her, bevor ich das Gespräch behutsam wieder in die richtige Richtung zu lenken begann. »Hat er irgendetwas über Miss Carter und die anderen gesagt?«
    Mulligan zögerte gerade lange genug, den Kopf zu schütteln, um mich nicht wirklich zu überzeugen. »Ich will nicht wieder dorthin.«
    »In den unterirdischen Kanal?« Wie kam er darauf, das zu müssen?

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