Irrliebe
Chiffrezuschrift zeigte. Der Brief wäre mir schon deshalb aufgefallen, weil wir fast nie den für den Inserenten bestimmten Text direkt in die Hände bekommen. Gewöhnlich befindet sich der eigentliche Brief doch in einem gesonderten – mit der Chiffrenummer versehenen – Umschlag, der seinerseits in einem weiteren Kuvert steckt. Und nur dieses ist an uns adressiert. Außerdem fällt auf, dass der Brief nicht handgeschrieben ist. Das ist zwar nicht so selten, aber es fällt auf, dass er nicht einmal persönlich unterschrieben ist.«
Stephan staunte.
Hilbig wehrte launig ab. »Sie können mich alles über die Sitten und Gebräuche bei den Kontaktanzeigen fragen, Herr Knobel. Ich wette, ich kann Ihnen fast jede Frage beantworten. Ich studiere jede Anzeige, die wir veröffentlichen, und jeden Briefumschlag, der hier eingeht. Jeden Poststempel, jeden Absender, wenn überhaupt einer draufsteht. Viele bleiben ja auch lieber anonym. Aber ich wette, dass jeder seinen Brief persönlich unterschreibt. Das macht man ja auch im Geschäftsleben so. Dann also erst recht hier.«
»Aber es handelt sich um eine Art Abschiedsbrief«, wandte Stephan ein.
»Gerade dann«, bekräftigte Hilbig. »Wenn der Schreiber wirklich will, dass Franziska ihn gehen lässt, wäre er besser beraten gewesen, sich nicht eines Schreibens zu bedienen, das der äußeren Form nach wie ›maschinell gefertigt, ohne Unterschrift gültig‹ aussieht.«
Er überlegte. »Vielleicht ist das Schreiben auch nie abgesandt worden«, meinte er. »Hier ist es jedenfalls nicht angekommen.«
»Wann hast du zum ersten Mal festgestellt, dass sich dein Mann verändert hat?«, fragte Marie beim Frühstück, das bei Dominique nur le petit déjeuner heißen durfte.
»Es gab keine schleichende Veränderung, Marie«, schnaufte die Architektin, als müsse sie Selbstverständliches erklären. »Es gab keinen Prozess, der irgendwann unauffällig begonnen und dann über einen längeren Zeitraum zum heutigen Zustand geführt hätte. Pierre und ich hatten seit Jahren unser Schweigen, aber das war kein Resultat irgendwelcher Entwicklungen. Wir schwiegen, weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten. Mehr nicht. Geht vielen so, und vermutlich wird es irgendwann allen so gehen. Punkt.« Sie blickte abschätzend auf Marie. »Keiner denkt daran, dass man sich vielleicht wieder trennen wird, wenn man frisch verliebt ist. Aber man sollte daran denken. Die Trennung ist das Normale.«
»Warst du in Pierre einmal richtig verliebt?«, fragte Marie.
»Du fragst kindlich«, urteilte Dominique. »Ist dir einmal aufgefallen, dass du dich immer unterordnest? Du bist zu unterwürfig. Das musst du ablegen. So kannst du im Leben nicht bestehen.«
»Nein«, gab Marie zurück. Aber sie merkte, dass sie sich tatsächlich anders als gewohnt verhielt. Sie wagte nicht zu sagen, dass ihr Dominique die Luft zum Atmen nahm, Worte erstickte, die ein Gespräch hätten eröffnen können, in dem man sich auf gleicher Ebene begegnete.
Dominique schob ihren Milchkaffee zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. Sie paffte und hing ihren Gedanken nach.
»Natürlich waren wir verliebt, als wir heirateten«, sagte sie schließlich. »Warum hätten wir es sonst tun sollen? Was erwartest du, Marie?«
Marie aß weiter. Sie bestrich das Croissant mit Konfitüre.
»Pierre war von einem Tag zum anderen ein anderer Mensch«, fuhr Dominique fort. »Ich meine nicht sein Schweigen. Ich meine seine Sehnsucht nach der Dunkelheit, dem Schwarzen in uns. Die Welt verfinsterte sich. Er flüchtete immer häufiger in diese Wohnung, denn zu Hause in Deutschland habe ich seine Marotten nicht geduldet. Wenn ich mit ihm sprach, wich er aus. Er hatte an nichts mehr Freude, weidete sich an Unglücksfällen und Schicksalsschlägen anderer Menschen, in denen er erfüllt sah, was nach seiner Meinung uns allen in den unterschiedlichsten Varianten als Schicksal vorherbestimmt ist.«
»Hatte er Kontakt zu einer Sekte?«, fragte Marie.
»Du stellst Fragen!« Dominique zog amüsiert an ihrer Zigarette. »Wie soll ich es wissen, wenn wir nicht einmal darüber sprachen, wer von uns den Müll nach unten bringt. – Ja, vielleicht hatte er Kontakt zu irgendwelchen Sektierern. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Denn wie es aussieht, hatte er zumindest eine Zeit lang Sex mit dieser Franziska. Zu dieser Zeit hatte er seine Bude hier schon geschwärzt. Er schien also noch freudentauglich gewesen zu sein.« Dominique grinste bitter,
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