Irrliebe
und Marie spürte für Augenblicke ihre aufblitzende Eifersucht.
»Menschen vom Schlage Pierre sind letztlich geerdet. Das ist meine feste Überzeugung«, bekräftigte Dominique. »Also habe ich sein Spektakel hier auch nicht sonderlich ernst genommen. Aber er hatte sich offensichtlich wirklich verändert. Natürlich kam der schwarze Anstrich nicht von jetzt auf gleich. Diesem äußeren Wandel waren etliche Monate vorausgegangen, in denen er begann, sich noch mehr zurückzuziehen, als ich es von ihm ohnehin schon kannte. Er wurde für mich unerreichbar.« Sie drückte die Zigarette aus und hielt einen Moment inne. »Aber ich habe ihn auch nicht zu erreichen versucht«, relativierte sie gelassen. »Das ist nicht meine Art, Kindchen! Jeder muss wissen, wo er bleibt.« Sie zuckte mit den Schultern. »War vielleicht falsch. Wer weiß das schon!«
»Wie denkst du über den Brief, den er Franziska zuletzt geschrieben hat?«, fragte Marie. Sie hatte einen Weg gefunden, Dominique nüchtern sachlich und zugleich wie beiläufig Fragen zu stellen. Sie schaute die Architektin nicht an, sondern konzentrierte sich scheinbar auf ihr Croissant.
»Was denkst du von deinem Monsieur Stephan, wenn du einen Brief finden würdest, in dem er schonungslos bekennt, sich mit einer anderen Frau ausgelebt zu haben? – Ich sagte doch, Marie, du stellst kindliche Fragen. Es hat mich verletzt, was sonst? Obwohl unsere Ehe längst erkaltet war, verletzte es mich. Willst du das hören? Jede Frau ist verletzt, wenn sie ihr eigener Mann hintergeht. – Weidest du dich an mir?« Dominique sah Marie fest ins Gesicht, doch Marie wich ihrem Blick aus.
»Warum sollte ich?«, fragte Marie unschuldig zurück. »Schreibt Pierre persönliche Briefe immer auf dem Computer?«
»Er hat eine unleserliche und ungeübte Handschrift. Ich glaube, er hat seit Jahrzehnten keinen Brief mehr mit der Hand geschrieben.« Dominique lächelte flüchtig. »Die Zeit der Casanovas ist vorbei. Für Pierre ist der Computer sein Notizbuch und sein Schreibblock. Er vermerkt darin Börsenkurse genauso wie die Konzepte seiner vorgeblichen Gefühlsausbrüche, mit denen er offensichtlich dieser Nutte imponiert hat.«
»Ich habe noch immer nicht verstanden, wie du auf den Brief an Franziska – ich meine, den Ausdruck des Briefes – gestoßen bist«, gestand Marie und schmeckte Dominiques Kraftausdrücke nach. Es waren Zeugnisse ihrer Verbitterung.
»Was machst du, wenn du so etwas wie einen Abschiedsbrief deines Freundes findest?«, fragte Dominique überlegen zurück und antwortete sich selbst: »Du schaust natürlich nach, ob du irgendetwas findest, was sein Verschwinden erklärt. Und dieses Schriftstück mit Datum 15.10. lag, ob du es glaubst oder nicht, im Ablagefach seines Zimmers in der Dortmunder Wohnung, in dem er all das sammelt, mit dem er sich nicht beschäftigen will. Das können Rechnungen und Mahnungen, aber auch einfache Werbezettel sein. Und ich mutmaße, dass das Schreiben gefunden werden sollte. Fast alle Menschen, die sich verabschieden, wollen ihr Tun in irgendeiner Weise erklären.«
Dominique bewegte sich wieder auf sicherem Terrain. Marie würde sie nicht aus der Reserve locken können.
»Glaubst du, dass er Franziska etwas angetan hat?«, fragte Marie.
»Glaubst du, dass der liebe Gott ein alter Mann mit weißem Bart ist?«, fragte Dominique spitz zurück. »Was soll ich glauben, Marie? Diese Franziska ist von einem Zug zerfetzt worden. Und mein Mann hatte seine Affäre mit ihr abgebrochen. Sie schien sich an ihn geklammert zu haben. War Franziska eine Frau, die klammerte? Du warst doch ihre Freundin!«
»Ja, ich denke schon«, sagte Marie nach einigem Überlegen.
»Siehst du«, quittierte Dominique die erwartete Antwort. »Ich hasse diese menschlichen Fesselseile«, sagte sie. »Du brauchst nur eins und eins zusammenzuzählen, Marie.«
Dominique stand auf, drückte die Zigarette aus und nahm einen Wollmantel von der Garderobe.
»Willst du weg?«, fragte Marie überrascht.
»Ich treffe mich mit einem alten Bekannten in der Stadt. Wir sehen uns dann heute Abend, Marie.«
Dominique ging an eine kleine Kommode neben der Couchgarnitur und holte einen Netzplan der Metro hervor.
»Nutze die Gelegenheit und schau dir Paris an!« Sie warf den Plan im Vorbeigehen auf den Esstisch und zwinkerte Marie mit flüchtigem Lächeln zu. Dann zog sie den Mantel an und ging.
Marie verließ das Haus gegen halb zwölf, fuhr ins Zentrum und lief zunächst
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