Jade-Augen
Geschicklichkeit darin, die vorhandenen Fähigkeiten phantasievoll einzusetzen, und deutet auf große Weisheit, die Schlachten zu erkennen, die man nicht gewinnen kann.« Er lächelte gütig. »Als Anerkennung bittet der Gastgeber seinen Gast, von ihm alles zu verlangen, was er mit seinen bescheidenen Möglichkeiten erfüllen kann.« Er machte eine weitere Geste. »Ein Badakshani-Streitroß vielleicht? Du wärst ein würdiger Reiter für solch ein Tier.«
Kit blickte auf und ließ seinen Blick über das Hochland schweifen, zu den steilen Gipfeln hinauf, oberhalb des unter ihnen liegenden Passes, die sich stolz, schwarz und schneebedeckt in den klaren Himmel reckten. Er schaute zur Seite auf die stille, verschleierte Gestalt neben sich. »Ich hätte gerne eine weitere Nacht mit Ayesha, Akbar Khan«, sagte er.
In der tödlichen Stille zeichneten sich undeutlich grauweiß die Umrisse eines Lämmergeiers, häßlich und vorzeitlich, über einer engen Schlucht ab. Kit bemerkte, daß er ihn konzentriert beobachtete, als ob Akbar Khans Antwort von keiner besonderen Bedeutung sei. Die Gestalt neben ihm hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Wo hatte sie diese absolute Unbeweglichkeit gelernt? fragte er sich abwesend.
»Christopher Ralston, du stellst meine Gastfreundschaft auf die Probe«, sagte Akbar Khan.
Gefahr lag in der Luft. Kit fühlte, wie sich seine Männer dichter um ihn schlossen, wie auch die Ghilzai auf dem Hügel sich bereit hielten für ein Angriffszeichen ihres Sirdars. Dieses Zeichen würde bedeuten, daß sie alle einen blutigen, schmutzigen und sinnlosen Tod sterben würden, nur weil Leutnant Ralston sich von seiner augenblicklichen Besessenheit hatte leiten lassen. Er beobachtete weiter den Lämmergeier.
»Wenn Ayesha dazu bereit ist, dann gebe ich deiner Bitte statt«, sagte Akbar Khan jetzt, und seine Stimme klang dabei so trocken und brüchig wie alte Knochen.
Kit wandte sich zu ihr um und verschlang sie mit hungrigen Blicken, sich der Antwort gewiß.
Ihre Worte klangen wie Glockenschläge in der Stille. »Ich glaube, Akbar Khan, daß Ralston, Huzoor, darum bitten wollte, daß du ihm sicheres Geleit und eine Eskorte zurück zur Straße nach Kabul gewährst.«
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Abweisung anzunehmen. Er hatte blind darauf gehofft, daß es ihm in einer weiteren glorreichen Nacht gelingen würde, sie dazu zu überreden, mit ihm zu kommen, einen narrensicheren Plan auszutüfteln und mit ihr davonzureiten …
»Ich muß mich den Wünschen der Dame beugen«, sagte er gelassen. »Wir werden keine Eskorte benötigen, Akbar Khan.«
»Einen Führer wenigstens«, rief der Sirdar, plötzlich wieder die Güte selbst. »Nein … Ralston, Huzoor, ich bestehe darauf, ihr kennt dieses Gebiet nicht, und es gibt viele Fallgruben.« Er winkte einem der Bergbewohner zu und redete schnell in Paschtu auf ihn ein. Der Mann grunzte etwas und reihte sich neben Kit und seinen Männern ein.
»Leb wohl, Annabel Spencer«, sagte Kit.
»Leb wohl, Christopher Ralston.« Sie sah ihn nicht an. »Möge dein Gott mit dir sein.«
Sie sah ihn noch immer nicht an, aber sie fühlte jeden Meter der wachsenden Entfernung, die sich wie ein drohender Abgrund zwischen ihnen auftat. Sie hatte sich so entscheiden müssen, um sie beide zu retten. Indem er ihr vermeintlich die Wahl gab, hatte Akbar Khan sie geprüft. Er hätte ihr einen Treuebruch niemals verziehen. Wenn Kit sie diesmal zu seinen eigenen Bedingungen besessen hätte, dann wäre dies für den Sirdar einer Übertretung des Gastrechts und somit einer Befreiung von den Verpflichtungen der Gastfreundschaft gleichgekommen.
Kit und seine Männer wären mit einem Messer im Rücken gestorben, und keiner hätte etwas dazugelernt. Wenn sie doch nur mehr Zeit gehabt hätte, ihm die Art dieser Menschen nahezubringen. Das Unbekannte stellte so viele unberechenbare Fallen.
»Kehre in das Zenana zurück, Ayesha.« Der kurze Befehl unterbrach ihre quälenden Überlegungen.
Vermutlich hatte sie damit ihrer Rolle in Akbar Khans Spiel mit dem Engländer entsprochen, ein Wettkampf, der nicht vollständig nach den Plänen des Afghanen abgelaufen war. »Wie du wünschst.« Sie lenkte ihr Pferd auf die Festung zu, während sich ihre eigene Eskorte um sie sammelte, und ritt zurück in ihre flüsternde, abgeschiedene Welt.
5. KAPITEL
»Sie haben ganz offenkundig Ihre Befehle überschritten, Leutnant«, sagte General Elphinstone mit zittriger Stimme aus der Tiefe
Weitere Kostenlose Bücher