Jagd in die Leere
ergab.
Andererseits war es natürlich auch möglich, daß sie ihm genau das gesagt hatten, was er hatte hören wollen. Um ihn ruhig und funktionsfähig zu halten. Das war ein Punkt, über den man nachdenken mußte.
Die Jagd sollte in New York stattfinden, und nachdem sich die Wächter vergewissert hatten, daß er unterwiesen, mit den Gegebenheiten vertraut war und man ihm selbst trauen konnte (obwohl der Dichter wußte, daß man ihm trauen konnte, denn für ihn gab es keine Unklarheiten mehr), würden sie ihn dort freilassen. Die Frau war bereits mit einem kurzen, notwendigen Vorsprung abgesetzt worden. Weil es wenig Sinn hatte, nur sie beide allein auf einem Gebiet von achthundert Quadratkilometern agieren zu lassen, würden die Wächter gewisse ausgewählte Einwohner – das war ihre eigene Phrase, »gewisse ausgewählte Einwohner« – in verschiedenen Teilen der Stadt stationieren, um jene Orte und Gebäude auszustaffieren, an und in die sich der Jäger und die Gejagte begeben würden, und die ansonsten einen menschlichen Hintergrund abgeben sollten. Die Wächter ließen sich nie ganz genau darüber aus, ob sie für diese Aktion die Menschen wiederbeleben oder ganz einfach welche aus den Zellen holen würden. Die ganze Angelegenheit konnte genausogut imaginativ sein. Die Diskussionen und Unterweisungen gingen einige Zeit weiter. Außer daß die Wächter ihm immer wieder sagten, was sie von ihm verlangten (und dabei besonderen Nachdruck darauf legten, daß er der Frau vor dem wirklichen Ende kein Leid antun durfte), enthielten die Sitzungen wenig Neues für ihn. Und dann, eines Tages, als der Dichter einmal mehr begonnen hatte, alle Hoffnungen auf zugeben; als er sich zu der Ansicht durchgerungen hat te, daß diese Sitzungen nur eine ausgeklügelte Beschäftigungstherapie waren, damit er nicht mehr die Gelegenheit hatte, Gedichte zu schreiben, holten sie ihn zum erstenmal aus der Zelle und führten ihn auf den Hof hinaus. Dazu benutzten sie ein Gerät, das einen Durchgang in die Mauer brannte. Sie führten ihn über ein weites Feld zu einem kleinen Gebäude, wo allein in einem riesigen Raum ein anderer Wächter, in Begleitung eines Assistenten, saß.
Der Dichter glaubte, daß dieser Wächter zu den Obersten gehörte, obwohl man sich da nie ganz sicher sein konnte. Nach seiner langen Gefangenschaft hatte ihn der Anblick des freien Feldes in seinen Bann gezogen. Dort wuchs frisches Gras, und ein paar Tiere, die wie Pferde aussahen, ihnen aber nicht völlig glichen, grasten darauf. Ein frischer Geruch war in der Luft. Es war wie einer jener Morgen, an denen man nach einer langen, durchzechten Nacht aufwacht und draußen, in der Ferne, eine Reihe neuer Chancen wahrnimmt … obwohl man weiß, daß nur Erschöpfung und Schamgefühl diesen Eindruck hervorrufen. Es war alles ganz beachtlich, wenn man bedachte, daß er in New York noch nie dergleichen erblickt hatte, daß die Luft in seiner Zelle so stickig geworden war, daß er vor Schmerzen oft gekeucht hatte.
»Hallo«, sagte jener Wächter. Er war formlos wie alle anderen, aber ein Quentchen größer, und er machte eine Bewegung, der der Dichter entnahm, daß man von ihm erwartete, daß er sich setzte.
Der Dichter setzte sich also. Er hatte schon lange gelernt, daß es keinen Zweck hatte, sich mit diesen Schweinehunden herumzustreiten. Wenn sie setzen sagten, dann setzte man sich eben.
»Wie fühlst du dich?« fragte der Wächter.
»Oh, mit mir ist alles in Ordnung. Nicht schlecht.«
»Etwas besser seit deinem Erlebnis?«
»Welchem Erlebnis?« konterte er.
»Die Fragen. Dem halluzinatorischen Druck, den wir ausübten.«
»Oh, ja«, sagte der Dichter. »Viel besser, danke. Ich kenne jetzt die Antwort. Jetzt wird es keine Probleme mehr geben. Überhaupt keine, das kann ich versprechen.«
»Gut. Wir sind mit deinem Verhalten in der letzten Zeit nicht unzufrieden. Du hast ein Höchstmaß an Kooperationsbereitschaft gezeigt seit dem ersten grundlegenden Mißverständnis.«
»Danke schön.«
»In der Tat sind wir fast soweit, dich zu einer klei nen Jagd freizulassen.«
»Gut«, sagte der Dichter. »Ich hatte damit gerech net, daß es bald soweit sein würde. Das ist sehr nett von Ihnen.«
»Wir rechneten damit, daß du bereits ungeduldig sein würdest. Ihr Menschen seid so unruhig. Es wird dir gut tun, wenn du dich wieder einmal bewegen und den meisten Aktivitäten deines früheren Lebens nachgehen kannst. Ich wünsche nur eines klarzustellen, bevor du auf
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