Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
kultivieren.«
Robin zog eine Augenbraue hoch.
»Nach dem, was du über seine Bilder erzählst, scheint er immer noch zwanghaft fleißig zu sein. Solche Bilder und Skulpturen wollen gründlich durchdacht und bis ins Detail geplant sein, und man muss handwerklich sehr sorgfältig vorgehen.«
»Da hast du Recht. Die Szene, die ich gesehen habe, soll schockieren, aber es herrscht eine gewisse Ordnung. Fast glaubte ich, ein Ritual vor mir zu haben.«
Robin lächelte.
»Das kenne ich. Es ist typisch japanisch. Als ich letztes Jahr in Tokio war, sah ich Straßentänzer, Jugendbanden, die angezogen waren wie die Halbstarken der Fünfzigerjahre. Sie nennen sich Zoku, Stämme. Es gibt mehrere rivalisierende Gruppen, jede von ihnen steckt sich sonntagnachmittags ein eigenes Terrain im Yoyogi Park ab. Sie kommen daher in schwarzen Lederanzügen, stellen sich zur Schau, grinsen und führen zynische Reden, lassen Knallkörper explodieren und tanzen zu kultischer Musik. Die ältere Generation ist schockiert, aber das ist ja auch der Sinn der Sache. Wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass ihr Verhalten alles andere ist als spontan. Alle Tänze, jede kleinste Bewegung, sind festgelegt. Abweichungen von den vorgeschriebenen Gesten gibt es nicht. Keinerlei Individualität. Sie haben aus ihrer Rebellion ein Shinto-Ritual gemacht.«
Ich musste an Garys Abschiedsmonolog über sein zukünftiges Leben in Middleville denken. Im Rückblick erschien es mir wie ein Kirchengesang.
Jetzt nahm Robin ein Salatblatt aus der Schüssel und probierte, dann spritzte sie einige Tropfen Zitrone hinein. Ich saß am Küchentisch, krempelte meine Hemdsärmel hoch und starrte auf die Tischplatte.
»Worüber machst du dir Sorgen, Liebling? Du wirkst so beunruhigt.«
»Ich dachte gerade darüber nach, wie seltsam es ist, dass zwei von sechs Kindern aus dem Projekt solche psychischen Schäden haben.«
Robin setzte sich mir gegenüber und nahm meine Hand.
»Vielleicht ist Gary überhaupt nicht geschädigt, sondern nur in einer Art Identitätskrise, und wenn du ihn das nächste Mal triffst, ist er schon Mitglied des California Institute of Technology.«
»Das glaube ich nicht. Er hat einen Fatalismus an den Tag gelegt, der mich wirklich erschreckte. Es war, als ob es ihm völlig egal sei, ob er lebt oder stirbt. Er zeigte keinerlei Gefühl oder Anteilnahme, das ist mehr als Rebellion. Weißt du, Robin, alle beide, Jamey und Gary, sind von erstaunlicher Intelligenz, und doch sind sie mir nichts, dir nichts aus der Bahn geworfen worden.«
»Und damit wäre die alte Theorie, dass Genie und Wahnsinn zusammengehören, wieder einmal bestätigt.«
»Nach allen neueren Forschungen ist sie falsch. Man hat sogar herausgefunden, dass Leute mit besonderer Intelligenz große seelische Stabilität besitzen. Die Versuchspersonen waren allerdings durchweg Leute mit einem IQ von hundertdreißig bis hundertundvierzig, also herausragend, aber durchaus noch innerhalb der Norm. Die Jugendlichen aus dem Projekt 160 sind anders. Ein Dreijähriger, der Griechisch übersetzen kann, ein sechs Monate altes Baby, das in Sätzen redet, solche Dinge sind fast Furcht erregend. Im Mittelalter glaubte man, dass Genies von Dämonen besessen sind. Heute halten wir uns für aufgeklärt, aber vor großer Intelligenz haben wir trotzdem Angst. Wir isolieren solche Menschen, stellen sie ins Abseits. Genau das ist mit Jamey geschehen. Sein eigener Vater hat ihn als eine Art Monster angesehen. Er misstraute ihm, dann ließ er ihn im Stich. Dutzende von Kindermädchen gaben einander die Tür in die Hand. Seine Tante und sein Onkel brüsten sich mit ihren Wohltaten, trotzdem ist deutlich herauszuhören, dass sie sich über seine Anwesenheit in ihrem Haus ärgerten.«
Robin hörte aufmerksam zu. Ich redete immer weiter, dachte laut vor mich hin.
»Irgendeiner hat mal gesagt, dass die Geschichte der Zivilisation Geschichte der Genies ist; die Begabten schaffen Dinge, die anderen ahmen es nach. Es gibt eine Menge Wunderkinder, die auch als Erwachsene große Leistungen vollbringen. Aber viele verzehren sich schon in ihrer Jugend. Entscheidend für ihre Entwicklung ist wohl, welche Förderung und Unterstützung Kinder von ihren Eltern erhalten. Ein überbegabtes Kind zu erziehen verlangt eine Menge Einfühlungsvermögen. Manche Kinder haben Glück, Jamey hatte keins. Ende des Vortrags.«
Robin nahm meine Hand und sah mich besorgt an:
»Was bedrückt dich wirklich, Alex?«
Eine ganze
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