Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Vann wohl so plötzlich verschwunden war. Dass sie bei Tubbs’ Agentur um eine Stellenvermittlung nachgesucht hatte, wies eigentlich darauf hin, dass sie die Absicht hatte, in Los Angeles zu bleiben. Irgendetwas musste geschehen sein, das sie veranlasst hatte, mitten in der Nacht Hals über Kopf ihre Sachen zu packen. Ob das etwas mit Jamey zu tun hatte oder nicht, war schwer zu sagen. Eine junge allein stehende Mutter hatte Grund genug, in Panik zu geraten und die Stadt zu verlassen. Aber der einzige Weg, herauszufinden, was wirklich geschehen war, war, mit der Dame selbst zu sprechen, wo aber konnte ich sie finden?
Ich nahm die Ausfahrt Laurel Canyon und fuhr dann in südlicher Richtung nach Hollywood. Roland Oberheims Büro war in La Brea, südlich vom Santa Monica Boulevard. Das Gebäude, ein zweistöckiges Bürohaus, war von Zedern umgeben. In der ersten Etage war ein Aufnahmestudio untergebracht. Über eine Außentreppe und durch einen separaten Eingang gelangte man in den zweiten Stock, in dem die Büros von drei Schallplattenfirmen lagen: Joyful Noise Records, eine Filiale des Christlichen Musikfunks, die Druckmann -Gruppe: eine Managerfirma für Musiker; am Ende des mit Kork tapezierten Flurs las ich auf einer Tür die Aufschrift: Anavrin Productions, R. Oberheim, Direktor.
Anavrin bestand aus einem Warteraum und einem Büro. Das Vorzimmer war mit zwanzig Jahre alten psychedelischen Postern dekoriert, die Big Blue Nirvana in mehreren Konzerten im ganzen Land zeigten. Die Zwischenräume waren mit gerahmten Fotos behängt, auf denen mir unbekannte Bands mit mürrischen Gesichtern zu sehen waren. Das Mädchen, das hinter der Empfangsloge saß, trug einen grellrosa Hosenanzug. Sie hatte kurzes, dauergewelltes Haar und kräftige Unterkiefer, die rhythmische Kaubewegungen ausführten, während sie unter ständigem Bewegen ihrer Lippen Billboard las. Als ich den Raum betrat, machte sie ein Gesicht, als sei ich der erste Mensch, dem sie in diesem Jahr begegnete.
»Ich bin Dr. Alex Delaware und würde gern Mr. Oberheim sprechen.«
»Okay«, sagte sie lang gezogen. Sie legte ihre Illustrierte weg, stand auf und ging hoch aufgerichtet die wenigen Stufen zum Büro hinauf. Sie öffnete die Tür, ohne anzuklopfen, und rief nach drinnen:
»Rolly, da ist so ein Typ namens Alex für dich.«
Als Antwort hörte ich nur ein Murmeln. Sie wies mit dem Daumen auf die Bürotür und sagte: »Gehen Sie rein.«
Ich betrat einen kleinen, fensterlosen Raum mit dunkelbraunen Wänden, einem Eichenfußboden und sechs naturfarbenen Kissen. Möbel gab es dort nicht. Oberheim saß im Yogasitz auf einem der Kissen, hielt die Hände auf den Knien und rauchte eine Beedie.
Oberhalb seines Kopfes hing eine goldene Single-Platte an der Wand, die wie ein Heiligenschein wirkte. Sonst gab es überall psychedelische Poster, ein Ziegenfell und in einer Ecke eine riesige Wasserpfeife. Auf Regalen waren meterweise Langspielplatten zu sehen und eine hypermoderne Stereoanlage. Auf dem Ziegenfell lag eine Bassgitarre.
»Mr. Oberheim, ich bin Alex Delaware.«
»Rolly O.« Er wies auf den Fußboden. »Nehmen Sie Platz.«
Ich hockte mich ihm gegenüber.
»Rauchen Sie?«
»Nein, danke.«
Er nahm einen tiefen Lungenzug und blies den Rauch nicht aus. Schließlich kam ein dünner, feiner, bitterer Rauchfaden heraus, der sein Gesicht, bis er sich auflöste, wächsern aussehen ließ.
Es war nicht besonders ansehnlich, grob, mit dicken Wangen und großporiger Haut; zwischen seine kleinen Augen zwängte sich eine rosa Knollennase. Sein Kinn war narbig, der Mund unter einem großen Schnurrbart versteckt. Er war kahl wie ein Ei mit Ausnahme einer grauen Strähne, die von einer Schläfe bis zur Schulter reichte. Er trug ein verwaschenes schwarzes Big Blue Nirvana- T-Shirt mit einem aufgenähten Gitarrenemblem und eine blaue Chirurgenhose.
Er sah zu mir herüber, blinzelte durch den Rauch.
»Sie sind ein Freund von Billy, nicht?«
»Eher ein Bekannter. Meine Verlobte baut seine Gitarren.«
»O ja«, rief er, »Raumschiffe, Eis am Stiel und sechssaitige Ersatzpimmel.«
»Ersatzpimmel habe ich bisher noch nicht gesehen.« Ich grinste.
»Sie werden es noch sehen. Darauf läuft doch alles hinaus. Weg von der Substanz, immer mehr Stilisierung. Auf einem Penis herumklimpern, Platinsaiten schlagen. Billy ist ein ausgekochter Geschäftsmann und weiß, worauf es ankommt.«
Er nickte in Selbstbestätigung.
»Tatsache ist, dass heutzutage der Stil keinen Stil
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