Jan Fabel 01 - Blutadler
schwerem Akzent. »Nehmen Sie Ihren Zeigefinger vom Abzug, und heben Sie Ihre Waffe über den Kopf.« Fabel gehorchte und spürte, wie ihm die Walther mit einer raschen, geschmeidigen Bewegung entzogen wurde. Er starrte die abbröckelnde grüne Farbe der Bürotür an und fragte sich, ob dies das letzte Bild war, das sein Gehirn verzeichnen würde. Seine Gedanken überschlugen sich. Dann öffnete sich die Kabinentür. Vor ihm stand ein kleiner, stämmiger Mann von Ende sechzig. Fabel erkannte seine slawischen Züge, vor allem jedoch die bohrenden, geradezu leuchtenden grünen Augen. Es war der Mann, der ihn in Angelika Blüms Wohnung überfallen hatte.
Hamburg-St. Pauli,
Freitag, den 20. Juni, 21.10 Uhr
Während MacSwain die Beifahrertür des silbernen Porsches für sie aufhielt, ließ Anna ihren Blick wie beiläufig die Straße entlanggleiten. Der zerbeulte gelbe Observations-Mercedes parkte in ungefähr zwanzig Meter Entfernung, und sie bemerkte eine schwache Bewegung hinter der Windschutzscheibe. Das Team war in Position und einsatzbereit. Sie lächelte MacSwain an und stieg in den Wagen. Auf den Lederpolstern des engen Rücksitzes stand ein großer Korb.
MacSwain schob sich hinter das Lenkrad und wurde auf ihren fragenden Blick aufmerksam. »Ach das?« Er lächelte vielsagend. »Ich dachte an ein Picknick.«
Annas Miene deutete an, dass sie neugierig und entspannt war, doch tief in ihrem Innern bildete sich ein Knoten. Ein Picknickkorb ließ an einen einsamen Ort denken. Und je einsamer der Ort war, desto schwerer würde es den Beobachtern fallen, ihr zu folgen. Sie musste ihre ganze Willenskraft zusammennehmen, um nicht in den Seitenspiegel zu schauen und sich zu überzeugen, dass ihre Helfer hinter ihr waren.
Sie fragte mit faszinierter Stimme: »Wohin fahren wir denn?«
»Das ist eine Überraschung«, sagte MacSwain lächelnd, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden.
Anna hatte sich halb auf ihrem Sitz gedreht und betrachtete MacSwains Profil. Ihre Haltung wirkte gelöst, obwohl sie bei der geringsten Bewegung von unerträglicher Spannung gequält wurde. Immer wieder sagte sie im Geist den Satz »Ich fühle mich nicht sehr wohl« vor sich hin, um ihn jederzeit greifbar zu haben.
Sie ließen St. Pauli zuerst in Richtung Osten und dann Süden hinter sich. »Ich fühle mich nicht sehr wohl.« Anna wendete den Satz hin und her, und er schien von ihrem Geist umklammert zu werden.
Speicherstadt, Hamburg,
Freitag, den 20. Juni, 21.05 Uhr
Fabel hatte Recht gehabt: Hinter den Pfeilern wäre es einem Mann unmöglich gewesen, sich zu verstecken. Aber der Platz reichte für eine schlanke, geschmeidige Frau. Sie hatte schimmernde goldene Haare und war von einer Aura der Jugend umgeben. Strategisch hinter einem der Pfeiler platziert, hatte sie nur ein paar leise Schritte machen müssen, um jemanden zu erreichen, der die Stufen zur Kabinentür hinaufstieg. Sobald Fabel entwaffnet war, verschwand der Druck der Pistolenmündung in seinem Genick, und seine Furcht ließ ein wenig nach. Am anderen Ende des Büros konnte er Mahmoot sehen. Der Türke machte keinen sehr lockeren Eindruck und hatte eine Quetschung an der rechten Schläfe. Sonst wirkte er unversehrt. Der Slawe trat zur Seite, um Fabel einzulassen. Wenn er etwas unternehmen wollte, dann musste es jetzt sein. Aber er konnte nichts unternehmen, denn der Slawe hatte seine Gedanken gelesen.
»Bitte, tun Sie nichts, was Sie bereuen würden, Herr Fabel.« Der Akzent passte zu dem Gesicht. War dies ein Angehöriger des ukrainischen Top-Teams, vielleicht sogar Wassyl Witrenko? »Wir beabsichtigen nicht, Ihnen oder Ihrem Freund hier Schaden zuzufügen.«
»Schon in Ordnung, Jan«, rief Mahmoot von der anderen Seite des Büros. »Es sind Polizisten ... oder so was Ähnliches. Ich hätte dich nicht hierher bestellt, wenn wir in wirklicher Gefahr wären.«
Der Slawe deutete auf einen zweiten Stuhl neben Mahmoot. »Bitte, Herr Fabel, setzen Sie sich.« Als Fabel Platz genommen hatte, wandte er sich auf Deutsch an die junge Frau. »Martina, gib dem Hauptkommissar bitte die Pistole zurück.« Sie ließ das Magazin fachkundig aus dem Griff gleiten und reichte es Fabel getrennt von der Waffe. Er schob die Walther in sein Halfter und steckte sich das Magazin in die Tasche. Dabei bemerkte er, dass die Frau die gleiche Automatik benutzte wie die, die Hansi Kraus in der stillgelegten Schwimmhalle gefunden hatte. Der einzige Unterschied bestand
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