Jane Christo - Blanche - 01
gelöst? Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm sie einen zittrigen Atemzug, blinzelte und blickte sich um. Die Rue Puget sah wie ein afghanisches Kriegsgebiet aus. Zu ihren Füßen befand sich ein tiefer Krater. Der Citroën lag auf dem Dach, der Container, dessen Deckel sich gelöst hatte, war ebenfalls umgefallen. Der darin enthaltene Bauschutt hatte sich durch die Druckwelle über die gesamte Straße verteilt, die nun wie eine Mondlandschaft wirkte. Der Geruch von verbranntem Gummi mischte sich mit dem Staub, der schwer in der Luft hing. Über alldem lag das monotone Gejaule zahlloser Auto-Alarmanlagen, die in ihren Ohren schrillten. Als sie sich umdrehen wollte, bemerkte sie, dass sie gegen Beliars Brust gedrückt war. Er hatte sich über sie geworfen und sie in die Arme gezogen. Seine schwarzen Flügel waren schützend um sie gelegt, sodass sie sich in einer Art Kokon befand.
Das Geräusch sich nähernder Sirenen riss sie aus ihrer Starre. Die Gendarmerie hatte ihr gerade noch gefehlt. Bevor sie sich rühren konnte, drückte Beliar sie noch fester an seine Brust, breitete die Schwingen aus und stieß sich vom Boden ab. Sie ließen das qualmende Schlachtfeld schnell hinter sich und verschmolzen mit den Schatten der Nacht.
„Dein Onkel will dich sehen“, begrüßte Pierre Nella, die sich so würdig, wie das in ihren knappen Klamotten möglich war, auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte.
Nellas Herz machte einen freudigen Satz. Onkel Enzo war Pierres Chef, der Oberboss der italienischen Mafia von Paris und das Familienoberhaupt der Di Lorenzo Familie. Seinem Klan gehörte das sechzehnte und siebzehnte Arrondissement sowie Teile des achten, neunten, zehnten und zweiten – zweifellos die saftigsten Stücke der französischen Metropole. Ihm gehörten noch andere Städte wie Marseille, Toulouse und Bordeaux, doch Paris war ohne Frage der dickste Fisch in seinem Netz. Von hier aus agierte die Di Lorenzo Familie international, pflegte Kontakte nach Italien, Algerien, Saudi Arabien und Übersee.
Nella war Enzo zum ersten Mal vor zwei Wochen begegnet, als Pierre sie von einem Hausbesuch abgeholt und zurück zu ihrem Arbeitsplatz gefahren hatte. Unterwegs kam der Anruf von Louis, Enzos Schwager, dass Pierre beim Boss erwartet wurde. Obwohl er sie angewiesen hatte, im Wagen auf ihn zu warten, war sie ins Haus geschlüpft, denn der Mercedes hatte nach kurzer Zeit arktische Temperaturen angenommen – und sie trug nicht gerade Winterklamotten. Eine halbe Stunde hatte sie sich die Beine in den Bauch gestanden, bis Pierre mit Louis und Enzo in der Eingangshalle erschien. Das Familienoberhaupt war kein großer Mann. Er war sogar ein bisschen kleiner als sie, und sie maß nur einssiebzig. Doch Enzo war kräftig gebaut, wirkte wach und vital – zeigte jedoch erste Zeichen eines Bauchansatzes, der unter seinem offenen schwarzen Jackett hervorlugte. Ein Maßanzug von Valentino, stellte sie fest und fragte sich im gleichen Atemzug, ob er zu seinen Frauen ebenso großzügig war. Sein volles schwarzes Haar trug er kurz, und seine dunkelbraunen Augen betrachteten sie aufmerksam. Auf seine Weise sah er gut aus.
Pierre fuhr sie an, da sie nicht im Wagen auf ihn gewartet hatte, doch Enzo tadelte ihn, weil er sie in der Kälte hatte sitzen lassen. Am liebsten hätte sie Pierre die Zunge rausgestreckt. Stattdessen schenkte sie Enzo ein schüchternes Lächeln, das er erwiderte. Das Ende vom Lied war, dass er einen vor Wut schäumenden Pierre ohne sie fortgeschickt hatte.
Seit diesem Tag ließ er sie regelmäßig abholen und in sein Quartier am Champs-Élysées bringen – heute war es bereits das vierte Mal. Aus unerklärlichen Gründen hatte er eine Schwäche für sie.
„In diesen Sachen kann ich mich bei ihm nicht sehen lassen.“ Nella deutete auf den Hauch von Nichts an ihrem Körper. Pierre ruckte sein Kinn zum Rücksitz.
„Werd nicht gleich hysterisch! Ich hab dir was zum Wechseln mitgebracht. Du hast fünf Minuten. Und wisch dir die Farbe aus dem Gesicht, du weißt, dass er das nicht mag.“
Du dämlicher Wichser, dachte sie und kletterte in den Fond. In ihrem ganzen Leben war sie noch nicht hysterisch geworden, obwohl sie mehr als ein Mal allen Grund gehabt hätte. Und was Enzo mochte oder nicht, wusste sie zehnmal besser als dieser Idiot. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Züge. Natürlich bekam Pierre kein Geld für dieses Arrangement, schließlich war er auf Enzos Wohlwollen angewiesen. Trotzdem bezahlte der Boss
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