Jane Christo - Blanche - 01
seine Fingerknöchel über ihren Hals fuhren. Bei der flüchtigen Berührung schloss sie kurz die Augen und fluchte innerlich, weil sie so empfänglich für ihn war.
„Zugegeben, das Tageslicht ist mir unangenehm und schwächt mich“, vertraute er ihr mit einer Stimme an, deren Intensität kleine Schauder über ihren Rücken jagte. „Darum werden wir bis zur Dämmerung warten, denn wir wollen mir doch nicht die gute Laune verderben, nicht wahr, Blanche?“
Na toll, jetzt wurde er auch noch sarkastisch. So viel zur Höllenbrut und ihrem dämlichen Macho-Gehabe. Obwohl sie zugeben musste, dass er als Dämon der Genusssucht und Verführung – und was sonst noch alles – das Vortäuschen falscher Gefühle verdammt gut drauf hatte.
Sie schluckte ihr Unbehagen hinunter. Weil es bereits früher Nachmittag war, einigten sie sich auf halb fünf, denn um diese Zeit wurde es im wolkenverhangenen Paris bereits dunkel.
Als Nella gegen Mittag die Rue Cavallotti Nummer fünfzehn erreichte, war sie über die vornehme Gegend überrascht. Zweifellos konnte es sich Leo leisten, hier zu wohnen, dennoch hatte sie etwas anderes erwartet. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie allerdings, dass der Vandalismus auch vor diesem Viertel nicht haltgemacht hatte. An den Toren und Jalousien der kleinen Läden leuchteten rote Graffiti. Das blau-weiße Schild einer Boulangerie war in der unteren Hälfte weggebrochen worden und das Schaufenster der Pharmacie neben dem Haus Nummer fünfzehn hatte einen Sprung, der sich wie ein Spinnennetz über das Glas ausbreitete.
Nella kramte in ihrer Parkatasche, bis sie den Zettel mit dem Tür-Pin sowie den kleinen goldenen Schlüssel fand, den Enzo ihr in die Hand gedrückt hatte. Warum wunderte es sie nicht, dass der Boss Leos Unterschlupf kannte und dass er wie selbstverständlich den Sicherheitscode und einen Wohnungsschlüssel besaß? Ob er auch Zutritt zu ihrer Bude hatte? Was für eine Frage, wahrscheinlich gehörte ihm der ganze Häuserblock.
Leo bewohnte das oberste Stockwerk, was bedeutete, dass sie sich in die fünfte Etage schleppen musste, denn in diesen alten Gebäuden gab es meistens keinen Aufzug, und falls doch, war er in der Regel kaputt.
Nellas Hände zitterten, als sie nach vergeblichem Klopfen die Wohnungstür öffnete – eine Klingel gab es nicht. Das hier war Enzos erster Auftrag für sie und den wollte sie nicht vermasseln.
„Finde Leo für mich, willst du das tun, preferita mia?“
„Und was dann?“
„Sieh nach, was er braucht und kümmere dich um ihn. Überzeuge ihn, dass er im Moment bei mir sicherer ist. Ich will ihn in meinem Quartier haben, wo ich ihn schützen kann – aber ich werde ihn nicht zwingen, capito?“
Wie sollte sie Leo überzeugen, dass er Enzo vertrauen konnte? Dem Mann, der zugelassen hatte, dass die Russen seine Pfandleihe dem Erdboden gleichgemacht und seine Frau entführt und ermordet hatten? Und falls Renée wider Erwarten noch leben sollte, war es ihr bestimmt nicht gut ergangen, so viel war sicher. Man musste keine Leuchte sein, um sich auszurechnen, was Zoeys Männer einer ehemaligen Prostituierten, was sie jeder Frau antun würden, wenn sich die Gelegenheit bot, ungestraft davonzukommen. Vor diesem Hintergrund wäre es wahrscheinlich besser, wenn sie tot wäre, dachte Nella bitter und betrat die stickige Wohnung.
„Leo, bist du da?“ Sie schaltete das Licht ein, ging ins Wohnzimmer und rief leise seinen Namen. „Ich bin’s, Nella!“
Es sah ordentlich aus, aufgeräumt, ganz anders als in seinem Laden. Nicht, dass sie ihn dort oft besucht hätte. Es gab jedoch Tage, an denen das Geld nicht mal für genügend Essen reichte, dann war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihre Halskette bei ihm einzulösen, die sie normalerweise niemals ablegte. Nella hatte Glück, dass Renée zu diesem Zeitpunkt im Geschäft war, obwohl sie im ersten Moment am liebsten im Erdboden versunken wäre. Doch dank Leos Frau gab er Nella das Geld, viel mehr, als die Kette wert war, ohne den Schmuck dafür zu verlangen. Wahrscheinlich war das dünne Goldband mit dem schlichten Kreuz ohnehin nichts wert, doch für Nella waren es unersetzliche Schätze. Eigentlich hätte sie diese Geste noch mehr beschämen müssen. In Wahrheit fühlte sie nichts als Erleichterung, die Sachen behalten zu dürfen. Das war ihre erste Begegnung mit Leo und sie hatte ihm seine freundliche Geste nie vergessen. Das Geld hatte sie ihm vierzehn Tage später zurückgezahlt, obwohl er es
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