Jasmin - Roman
Augen nieder, und meine Hand, die ausgestreckt war, um den Motor anzulassen, erstarrte.
»Der Bischof kam damals täglich zu uns nach Hause, und als er sah, dass ich vor Trauer völlig betäubt und nicht einmal imstande
war zu weinen, setzte er sich neben mich und erzählte mir eine Anekdote, die mehr bewirkte als alle Worte des Trostes. Es war eine Geschichte von Abd al-Wahab, dem Sänger. Als junger Mann Anfang zwanzig wurde er einmal eingeladen, bei einer Konzertveranstaltung im Libanon zu singen, und er wurde vom Dichterfürsten Ahmad Schawki begleitet. Plötzlich traf die Nachricht vom Tod seines Vaters ein, an dem er sehr hing. Er weinte ununterbrochen und murmelte: ›Papa, Papa, Papa.‹ Schawki versuchte, ihn zu beruhigen: ›Ich bin dein Vater und dein Freund, und ich liebe dich‹, konnte ihn aber nicht trösten. Auch der ägyptische Schriftsteller Taha Hasein, der ebenfalls da war, versuchte, ihn zu trösten. Doch al-Wahab konnte sich nicht beruhigen und bat, das Konzert am Abend abzusagen. Da fragte ihn Taha Hasein: ›Ist die Musik ganz und gar Freude, ganz und gar Glück, gibt es in ihr nicht Kummer und Trauer? Sing für uns, mein Sohn‹, drängte er ihn, ›deine Lieder werden unsere Herzen erschüttern, und wir werden gemeinsam mit dir trauern.‹ Da gab er nach. Am Abend stand er vor dem Publikum, sang und weinte, und seine Verehrer weinten mit ihm. So erzählte der Bischof. Und ich bin in mein Zimmer hinaufgegangen, habe die Tür zugesperrt, eine Platte von Feiruz aufgelegt, und meine Tränen konnten endlich fließen.«
Ich wollte sie umarmen, wagte es aber nicht.
Wir erreichten die Kreuzung nahe der Har-Hazofim-Universität. Presslufthämmer bohrten sich in den Fels, Planierraupen bearbeiteten den felsigen Boden, die Fundamente zu einem neuen Wohnviertel wurden gelegt. In der Luft hing trockener Staubgeruch.
»Ihr sabotiert die Schönheit und den Charakter der Stadt«, sagte Jasmin.
Sie hat recht, dache ich. Jerusalem veränderte sich von Tag zu Tag vor meinen Augen. Ich empfand bereits Sehnsucht nach jener Stadt, in die ich als junger Mann gekommen war, nachdem ich den Kibbuz verlassen hatte. Ich liebte die gefleckten Hügel, die vielfältigen Stadtviertel und die Stille. Auf den Straßen sah
man damals züchtige Mädchen in langen Röcken, die ich besonders anziehend fand. Bevor ich dort hinkam, hatte ich mir Jerusalem als große Stadt vorgestellt, als internationale Metropole, wie es seiner Bedeutung für die drei Weltreligionen gebührte, und ich war überrascht gewesen, eine kleine Stadt mit wenigen Einwohnern vorzufinden. Jetzt, wo die Altstadt und Gelände im Süden, Norden und Osten angeschlossen worden waren, Straßen ausgebaut und neu angelegt wurden, Telefonleitungen und Kanalisationsrohre in ihrem aufgewühlten Bauch versenkt wurden, ausgerechnet jetzt entfernte sich die Stadt von mir, verwirrt und beschämt wie eine bislang unfruchtbare Frau, die über Nacht schwanger geworden war und aus deren Leib nun Siebenlinge hinausdrängten und ihre Arme in alle Richtungen ausstreckten.
»In Paris«, fuhr Jasmin mit einem spitzbübischen Lächeln fort, »gibt es einen Menschen, der den Eiffelturm hasst, und seltsamerweise steigt gerade er Tag für Tag hinauf. Er wurde einmal gefragt, weshalb er denn den Turm immer besteige, wenn er ihm so verhasst sei. Der Mann antwortete: ›Weil es der einzige Ort ist, von dem aus man den Eiffelturm nicht sehen kann.‹ Übrigens, damit möchte ich Ihnen sagen, dass ihr gar nicht wisst, was ihr euch selbst antut, aber woher solltet ihr auch? Der einzige Ort, von dem aus man Israel nicht sehen kann, ist Israel selbst.«
Ich hörte ihr zu und genoss jedes ihrer Worte. Die Veranschaulichung durch Parabeln hatte mir schon immer gefallen, und sie verstand sich darauf mit dem Charme und der Natürlichkeit einer Dorfgroßmutter.
Ihre Aufmerksamkeit galt nun einer Gruppe schwarz gekleideter Orthodoxer, die am Straßenrand entlangschritten. »Mit ihnen hätten wir uns arrangieren können, sie haben keine territorialen Ambitionen.«
»Überlassen wir es den Politikern.«
»Was soll man machen? Die Politik liegt einem im Blut wie eine chronische Krankheit, in dem Moment, in dem man an ihr erkrankt, wird man sie nicht mehr los.«
»Jasmin, erzählen Sie mir ein bisschen vom Bischof, ich weiß überhaupt nichts über ihn.«
»Er ist ein gut aussehender, beeindruckender Mann, klug, durchtrieben, egozentrisch und ein ziemlicher Schwätzer. In erster Linie ein
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