Je sueßer das Leben
innerlich, denn auch wenn sie überlegt, sich von ihm zu trennen, kann sie den Gedanken, dass er mit einer anderen Frau zusammen ist, nicht ertragen.
Hannah geht erneut den kleinen Kühlschrank durch und riecht an sämtlichen Alkoholfläschchen, vergebens. Trotz ihrer Aufgewühltheit sieht Hannah elegant und schön aus, und Julia spürt eine Woge der Zärtlichkeit für die junge Frau in sich aufsteigen. »Was machst du denn da, Hannah?«, fragt sie.
»Ich versuche nur, etwas zu finden, was nicht total widerlich ist, damit ich mich besinnungslos betrinken kann.« Sie hält ein Fläschchen Whiskey in die Höhe und nippt daran. »Brrrh.«
»Wer sagt denn, dass du dich besinnungslos betrinken sollst?«, fragt Julia weiter.
Hannah schraubt die Flasche entmutigt wieder zu. »Das macht man doch in so einer Situation.«
Julia dreht sich zu ihr. »Wer sagt das?«, will sie wissen. »Die Menschen sind alle unterschiedlich. Das haben sie mir am Anfang auch immer gesagt, dass alle unterschiedlich trauern, aber wenn du die verschiedenen Phasen dann nicht in der richtigen Reihenfolge durchlebst, dann stimmt irgendetwas nicht mit dir. Dann kommen alle mit irgendeiner Definition an, was das Richtige in dieser oder jener Situation ist. Vergiss es. Du musst das tun, was für dich das Richtige ist.«
»Ich bin nicht so wie du, Julia.« Hannah bedeckt ihr Gesicht mit den Händen.
Julia sieht sie an. Da ist es wieder, dieses ferne Echo von Livvy. Livvy hatte sich ständig mit ihr verglichen, weil ihre Eltern sie ständig miteinander verglichen. Julia war davon fürchterlich genervt, weil sie nicht verstand, warum Livvy da mitmachte und ihre Eltern nicht einfach ignorierte. Und wenn sie jetzt hört, wie eine tolle Frau wie Hannah sich mit ihr vergleicht – mit ihr, die bei Madeline in Ohnmacht fiel, die zutiefst verletzt und überhaupt noch nicht bereit ist, sich der Welt zu stellen –,dann fragt sie sich, ob sie damals nicht zu viel von ihrer kleinen Schwester verlangt hat. Oder jetzt.
Hannah weint, verzweifelt über ihr vermeintliches Versagen. Julia wünschte, sie könnte die Uhr für sie zurückdrehen auf die Zeit vor Philippe, ja, vor ihrem musikalischen Erfolg, auf einen Neuanfang. Sei du selbst , würde sie der jungen Hannah raten, so wie sie es der jungen Livvy geraten hat. Aber vielleicht wäre dadurch gar nichts gewonnen. Mochte unsere Umwelt uns auch beeinflussen, wir kommen doch mit einer eigenen, fertigen Persönlichkeit auf die Welt. Julia erkennt das inzwischen ganz deutlich an Gracie, die eine Verkörperung ihres Namens ist. Grazie, Anmut. Ihr muss Julia nie sagen, sei du selbst , weil Gracie es immer ist.
»Hannah«, sagt Julia sanft. »Meine Schwester Livvy verbrachte einen großen Teil ihrer Kindheit damit, die Erwartungen anderer zu erfüllen oder zumindest das, was sie dafür hielt.« Julia erinnert sich, dass Livvy einmal eine kleine Umfrage unter ihren Freunden startete, welche Art von Geburtstagsfest sie veranstalten sollte. »Sie hat sich so sehr bemüht, es allen recht zu machen. Das war nicht gut.«
»Warum nicht?«
»Weil Livvy Livvy ist.« Julia streicht eine Haarsträhne aus Hannahs verweintem Gesicht. »Livvy wurde erst sie selbst, als sie es im ersten Collegejahr ins Cheerleader-Team schaffte. Da hörte sie auf, sich ständig für sich selbst zu entschuldigen oder wegen irgendetwas um Erlaubnis zu fragen. Aber selbst dann ließ sie sich immer noch leicht durch die Meinung anderer beeinflussen. Das ist womöglich immer noch so.«
»Trotzdem kann sie sich glücklich schätzen.« Hannah sieht auf.
Julia lächelt. »Ach ja? Warum?«
»Weil sie dich hat.«
Julia öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, weiß aber nicht recht, was sie sagen soll.
»Ich stehe meinem Bruder nicht besonders nah. Das habe ich noch nie – es fällt mir schwer, mit Albert zu reden. Er ist von einem tiefen Zorn erfüllt, besonders unserem Vater gegenüber. Dieser Ehrgeiz, mit dem Chinesen ihre Kinder zu Höchstleistungen antreiben, hat ihm nicht gutgetan.«
»Inwiefern? Was ist passiert?«
»In dem Sinn ist nichts passiert. Er hat getan, was mein Vater wollte – er war in Harvard, dann ist er nach Yale und hat Medizin studiert. Er ist Chef der Kinderchirurgie im Johns Hopkins. Er hat Lynn geheiratet, eine Endokrinologin. Sie haben zwei Kinder, die sie demselben Druck aussetzen, dem wir ausgesetzt waren. Wir sehen uns einmal im Jahr, aber es ist immer ziemlich schlimm.« Hannah verzieht das Gesicht. Sie wirft die
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