Jenseits des Bösen
eine Freundin von dir wissen.«
Joyce sagte nichts, aber ihr Gesicht war ganz Kümmernis.
Jo-Beth hatte diesen Ausdruck aber schon so häufig gesehen, daß sie sich nicht davon beeindrucken ließ.
»Ich habe gestern einen Jungen kennengelernt, Mama«,
sagte sie und war entschlossen, alles zu sagen. »Er heißt Howard Katz. Seine Mutter war Trudi Katz.«
Joyce' Gesicht streifte die Maske der Kümmernis ab.
Darunter kam ein auf unheimliche Weise zufrieden wirkender Ausdruck zum Vorschein. »Habe ich es nicht gesagt?«
murmelte sie bei sich und drehte den Kopf wieder zum Fenster.
»Was hast du gesagt?«
»Wie könnte es vorbei sein? Wie könnte es vorbei sein?«
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»Mutter. Bitte erkläre mir das.«
»Es war kein Unfall. Wir wußten alle, daß es kein Unfall war. Sie hatten ihre Gründe.«
»Wer hatte Gründe?«
»Ich brauche den Pastor.«
»Mutter: wer hatte Gründe?«
Joyce stand auf, ohne zu antworten.
»Wo ist er?« fragte sie mit plötzlich lauter Stimme. Sie ging auf die Tür zu. »Ich muß ihn sprechen.«
»Schon gut, Mama! Schon gut! Beruhige dich.«
Unter der Tür drehte sie sich zu Jo-Beth um. Tränen standen ihr in den Augen.
»Du darfst nicht mit Trudis Jungen zusammentreffen«, sagte sie. »Hast du mich verstanden? Du darfst ihn nicht sehen, nicht mit ihm sprechen, nicht einmal an ihn denken. Versprich es mir.«
»Das kann ich nicht versprechen. Es ist albern.«
»Du hast doch nichts mit ihm gemacht, oder?«
»Was meinst du damit?«
»Mein Gott, du hast es getan.«
»Ich habe nichts getan.«
»Lüg mich nicht an!« forderte Mama und ballte die Hände zu knochigen Fäusten. »Du mußt beten, Jo-Beth!«
»Ich will nicht beten. Ich wollte Hilfe von dir, mehr nicht.
Ich brauche keine Gebete.«
»Du bist schon besessen von ihm. Bisher hast du nie so gesprochen.«
»Ich habe auch noch nie so empfunden!« antwortete sie. Sie war gefährlich dicht davor, in Tränen auszubrechen; Wut und Angst vermischten sich. Es war sinnlos, Mama zuzuhören, sie würde nur nach Gebeten schreien. Jo-Beth ging so nachdrücklich zur Tür, daß Mama klar war, sie würde sich nicht aufhalten lassen. Kein Widerstand wurde ihr entgegengesetzt. Mama trat beiseite und ließ sie gehen, aber während sie die Treppe 186
hinunterschritt, rief sie ihr nach:
»Jo-Beth, komm zurück! Ich bin krank, Jo-Beth! Jo-Beth!
Jo-Beth!«
Howie machte die Tür auf und sah seine in Tränen
aufgelöste Schönheit vor sich.
»Was ist denn los?« fragte er und bat sie herein.
Sie legte die Hände vors Gesicht und schluchzte. Er nahm sie in die Arme. »Schon gut«, sagte er, »so schlimm kann es gar nicht sein.« Das Schluchzen wurde immer leiser, bis sie sich von ihm löste, verloren mitten im Zimmer stand und sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen wischte.
»Tut mir leid«, sagte sie.
»Was ist denn passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte. Sie reicht weit zurück. Bis zu deiner und meiner Mutter.«
»Sie kannten einander?«
Sie nickte. »Sie waren die besten Freundinnen.«
»Also stand es in den Sternen«, sagte er lächelnd.
»Ich glaube, Mama sieht es nicht so.«
»Warum nicht? Der Sohn ihrer besten Freundin...«
»Hat dir deine Mutter je gesagt, warum sie den Grove verlassen hat?«
»Sie war nicht verheiratet.«
»Mama auch nicht.«
»Vielleicht war sie zäher als meine...«
»Nein, ich meine damit: Vielleicht ist es mehr als ein Zufall.
Ich habe mein Leben lang Gerüchte gehört, was vor meiner Geburt passiert ist. Über Mama und ihre Freundinnen.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Ich weiß nur Bruchstücke. Sie waren vier. Deine Mutter; meine; ein Mädchen namens Carolyn Hotchkiss, deren Vater noch im Grove lebt, und noch eine. Ihren Namen habe ich vergessen. Arleen irgendwer. Sie wurden angegriffen.
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Vergewaltigt, glaube ich.«
Howies Lächeln war schon lange verschwunden.
»Mutter?« sagte er leise. »Warum hat sie nie etwas gesagt?«
»Wer würde seinem Kind schon erzählen, daß es auf diese Weise empfangen wurde?«
»Herrgott«, sagte Howie. »Vergewaltigt...«
»Vielleicht irre ich mich«, sagte Jo-Beth und sah zu Howie auf.
Sein Gesicht war verkniffen, als wäre er gerade geschlagen worden.
»Ich habe mein ganzes Leben mit diesen Gerüchten gelebt, Howie. Ich habe gesehen, wie Mama durch sie fast in den Wahnsinn getrieben wurde. Sie sprach ununterbrochen vom Teufel. Ich hatte immer schreckliche Angst, wenn sie davon sprach, daß Satan ein Auge auf mich geworfen hatte.
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