Jerry Cotton - 0581 - Ich und der Krallenmoerder
und begreifen, daß ihr Platz in diesem Haus ist — an meiner Seite und in der Umgebung kultivierter, gepflegter Menschen.«
»Haben Sie sich niemals mit Ihrer Frau über diesen Punkt entzweit?«
»Niemals«, erklärte Anthony Merlin. »Erstens bin ich kein Mann, der Streitigkeiten liebt, und zweitens hasse ich den Gedanken an Ehetyrannei. Fay ist ein freier Mensch, ich würde es niemals wagen, in ihre Persönlichkeitsentwicklung einzugreifen. Natürlich versuche ich gelegentlich, sie behutsam zu steuern, aber ich möchte sie nicht in irgendeine Form pressen. Ich liebe Fay nicht zuletzt deshalb, weil sie so herrlich unkonventionell ist. Wenn ich mir dagegen manche andere junge Frauen aus unserer Gesellschaftsschicht betrachte — brr!« Er winkte ab und schüttelte den Kopf, als hätte er eine Spinne verschluckt.
»Haben Sie sie schon jemals bei einer Lüge ertappt?« wollte ich wissen.
»Niemals!« erwiderte er scheinbar spontan. Der Ausruf kam so rasch und nahezu pathetisch, daß ich mich unwillkürlich fragte, ob ich ihn ernst nehmen durfte.
»Jede Frau schwindelt zuweilen ein wenig«, sagte ich lächelnd. »Es sind kleine Notlügen, die man auch als weibliche Listen bezeichnen kann…«
»Auf Fay trifft das nicht zu«, behauptete Merlin. »Sie ist stets offen — und das manchmal auf schockierende Weise.«
»Sie kennen die Situation«, sagte ich. »Die Aussage Ihrer Frau widerspricht in wesentlichen Punkten der Aussage von Larry Coster. Wie erklären Sie sich das?«
Er hob die Augenbrauen. »Da fragen Sie noch? Für mich ist Fays Aussage verbindlich. Über den leisesten Zweifel erhaben. Weshalb hätte sie schwindeln sollen? Nein, dafür gibt es nicht den geringsten Grund.«
»Wer sind ihre Freunde?« fragte ich.
»Wie soll ich das verstehen?« meinte er zögernd.
Ich lächelte. »Ihre Frau hängt an ihrem alten Viertel. Ein Stadtbezirk besteht nicht nur aus Häusern und Straßen. Er wird vor allem von den Menschen geprägt, die in ihm wohnen. Wie viele Leute, Männer oder Frauen, stehen Ihrer Gattin noch nahe, mit wem trifft sie sich, wen besucht sie, wenn sie da drüben alte Erinnerungen auffrischt?«
»Ich spioniere Fay nicht hinterher«, sagte Merlin.
»Wenn ich Sie recht verstehe, lieben Sie Ihre Frau«, erklärte ich. »Das bedeutet doch Anteilnahme an allem, was sie schätzt und tut. Haben Sie niemals mit ihr über die Menschen dieses Viertels gesprochen? Haben Sie niemals die ehemaligen Freunde und Bekannten Ihrer Frau kennengelernt?«
»Offen gestanden bin ich dem aus dem Wege gegangen«, sagte er. »Diese Menschen sprechen eine andere Sprache als ich. Es ist keineswegs Arroganz, wenn ich behaupte, daß wir auf verschiedenen Ebenen leben. Diese Menschen fühlen sich mir gegenüber verklemmt, sie sehen in mir nicht Tony Merlin, sondern Anthony Merlin, den Millionär. Es hätte keinen Zweck, sich mit ihnen zu unterhalten.«
»Sie sprechen mit Ihrer Frau«, wandte ich ein. »Sie lieben sie sogar.«
»Mit Fay ist das etwas anderes. Sie ist in, jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung.«
»Hat sie noch Verwandte in der Stadt?«
»Nein. Ihre Mutter lebt irgendwo in Idaho. Ich schicke ihr regelmäßig einen Scheck, aber sie legt das Geld zurück, um es eines Tages Fay vermachen zu können. Verrückt, was?«
Ich stand auf. »Es wird Zeit, daß ich gehe.«
Merlin brachte mich durch die Diele nach draußen. Ich verabschiedete mich von ihm und fuhr mit meinem Jaguar davon. An der nächsten Kreuzung stoppte ich und lenkte ihn auf einen Parkstreifen. Zu Fuß ging ich zurück zu Merlins Grundstück.
Der blutrote Abendhimmel färbte sich violett. In den Gärten breitete sich zwischen den Busch- und Baumgruppen diffuses Dunkel aus. Niemand sah mich, als ich Anthony Merlins Grundstück betrat. Ich verzichtete darauf, an der Vordertür zu klingeln, sondern ging um das Haus herum.
Ich war bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Kurz vor der Terrassentür stoppte ich. Sie war noch immer offen, so daß ich die Stimme des Millionärs deutlich hören konnte. Sie klang nervös und gepreßt.
»Ja, morgen früh«, sagte er ungeduldig. »Ich brauche das Geld in kleinen Scheinen. Ja, Sie haben richtig verstanden. Fünf Millionen Dollar!«
***
Ich trat auf die Schwelle.
Anthony Merlin wandte mir seinen Rücken zu. Er wirkte verkrampft. Er hatte die Schultern zusammengezogen, als ob er fröre.
»Nein, Baker«, sagte er. »Ich kann Ihnen leider nicht mitteilen, wofür ich das Geld benötige. Es ist eine
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