Joe Kurtz 02 - Bitterkalt
ist?«
»Deshalb sind wir gekommen«, erwiderte Angelina Farino Ferrara.
Die Rezeptionistin nickte und bat eine Frau in Weiß, sie zu Mr. Norse zu bringen.
Die sterbende Kreatur im Bett war alles andere als ein Lackaffe. Das, was von Johnny Norse noch übrig war, wog höchstens 50 Kilo. Seine abgemagerten Arme, die Kurtz an die Stummelflügel von Vogelbabys erinnerten, hatten gelbe Nägel und die Haut war gesprenkelt mit den charakteristischen Geschwüren und Tumoren des Kaposi-Sarkoms. Seine Haare waren fast vollständig ausgefallen. Sauerstoffschläuche führten in die weit geöffneten Nasenlöcher des Mannes. Norses aufgesprungene Lippen hatten sich bereits über die Zähne zurückgezogen wie bei einer Leiche, seine Augen lagen tief in den Höhlen und von den Augenwinkeln gingen weiße Netze aus, als hätten sich dort Spinnen eingenistet.
Das erste Buch auf der Leseliste seines Freundes Pruno, die der ihm vor dem Abschied in den Knast in die Hand gedrückt hatte, war Madame Bovary gewesen. So ähnlich musste Emma Bovarys Leiche nach ihrem unfreiwilligen Freitod durch Arsen ausgesehen haben.
Norse zuckte in seinem Bett und richtete seinen starren Blick auf sie. Kurtz trat näher zu ihm heran.
»Wer sind Sie?«, flüsterte Norse. Es lag ein mitleiderregender Eifer in diesem Flüstern. »Hat Emilio Sie geschickt?«
»Sozusagen«, sagte Kurtz. »Können Sie sich noch daran erinnern, dass Emilio Gonzaga Sie vor zwölf Jahren damit beauftragte, eine Frau namens Samantha Fielding töten zu lassen?«
Norse runzelte die Stirn und tastete nach dem beigefarbenen Kabel mit dem Klingelknopf. Kurtz riss ihm den Knopf aus den zitternden Händen. »Samantha Fielding«, wiederholte Kurtz. »Eine Privatdetektivin. Während der Entführung von Elizabeth Connors. Sie waren damals der Verbindungsmann zu Eddie Falco und Manny Levine.«
»Wer zur Hölle sind Sie?«, flüsterte Johnny Norse. Seine stumpfen Augen wanderten zu Angelina und wieder zurück zu Kurtz. »Leck mich.«
»Falsche Antwort«, konstatierte Kurtz. Er beugte sich mit ausgestreckten Armen über den alten Mann, als wollte er ihn umarmen, legte aber stattdessen seine Daumen auf die beiden Sauerstoffschläuche und drückte sie zu.
Norse begann zu keuchen und zu krächzen. Angelina schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
Kurtz ließ die Schläuche los. »Samantha Fielding?«
Johnny Norses Augen zuckten hin und her wie bei einem in die Enge getriebenen Nagetier. Er schüttelte den Kopf und Kurtz quetschte die Schläuche ein weiteres Mal zusammen, diesmal so lange, bis Norses Keuchen wie die Cheyne-Stokes-Atmung nach einem Schlaganfall klang.
»Samantha Fielding«, wiederholte Kurtz geduldig. »Vor etwa zwölf Jahren.«
Der Leichnam im Bett nickte wild. »Das Connors-Mädchen. Emilio hat ... Connors erpresst ... wollte nur ... das Geld.«
Kurtz wartete.
»Diese ... Fotze ... die Schnüfflerin ... entdeckte die Verbindung ... zwischen Falco und Levine ... und uns und der Entführung. Emilio ...« Er hielt inne und sah Kurtz an, sein Leichenmund verzerrte sich zu etwas, das wie die Karikatur eines einnehmenden Johnny-Norse-Lächelns wirkte. »Ich hatte ... nichts damit zu tun. Ich wusste nicht einmal, über wen sie redeten. Ich ...«
Kurtz streckte seine Finger in Richtung der Sauerstoffschläuche aus.
»Scheiße ... verdammt ... okay. Emilio gab den Befehl. Ich ... überbrachte ihn ... den Dealern ... Falco und ... Levine. Hast du jetzt, was du willst, Arschloch?«
»Ja«, antwortete Kurtz. Er zog seine .40-Halbautomatik von Smith & Wesson aus dem Gürtel, spannte den Hahn und steckte den Lauf in Johnny Norses Mund. Die Zähne des Mannes klapperten gegen den kalten Stahl. So etwas wie wilde Erleichterung flackerte hinter den umwölkten Augen auf.
Kurtz zog den Lauf aus dem Mund von Norse und sprühte ihn mit einer Flasche Desinfektionsmittel, die auf dem Nachttisch stand, ein. Dann wischte er die Waffe mit dem Saum von Norses Hemd ab und steckte sie wieder in seinen Gürtelholster. Kurtz nickte seiner Begleiterin zu und sie verließen den Raum.
Kapitel 10
Kurtz ließ Angelina noch weiter nach Osten fahren, bis zu einem Industriegebiet an der Schnellstraße hinter der Volkshochschule von Erie. Sie folgten leeren Straßen und überquerten leere Parkplätze, bis sie schließlich ein verlassenes Grundstück mit Laderampen erreichten. »Hier«, forderte Kurtz sie zum Anhalten auf. Die .40 S&W lehnte schussbereit auf seinem linken
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