John Medina - 02 - Gefaehrliche Begegnung
beinahe, überfallen zu werden, doch das geschah in dieser Gegend nur sehr selten.
Kies knirschte und spritzte unter ihren hämmernden Füßen. Die Morgenluft war herrlich erfrischend. Noch ging ihr Atem relativ leicht, und sie hatte noch viel Kraft in den Beinen. Sie liebte es, ihre Beinmuskeln zu spüren, zu fühlen, wie sie sich rhythmisch an- und wieder entspannten. Allmählich beruhigte sie sich und konnte sich nun ganz auf das Laufen konzentrieren.
Er dagegen rannte, als wären sie gerade erst losgelaufen, vollkommen mühelos, der Atem langsam und regelmäßig. Dallas war genauso gerannt, fiel ihr wieder ein, so als könnte er stundenlang in dem Tempo weitermachen.
»Du läufst wie ein SEAL«, sagte sie irritiert, weil sie ein wenig zu schnaufen begann.
»Das will ich doch hoffen«, antwortete er leichthin. »Sonst hätte ich die härtesten sechs Monate meines Lebens vergeudet.«
Sie war so überrascht, dass sie beinahe stehen blieb. »Du hast auch BUD/S gemacht?«
»Überlebt ist der bessere Ausdruck«, korrigierte er sie.
»Habt ihr euch dort kennen gelernt, du und Dallas?«
»Nein, ich war ein paar Klassen vor ihm. Aber er … äh, er kannte ein paar von meinen Techniken, als wir das erste Mal miteinander zu tun hatten.«
»Hast du während der Ausbildung deinen richtigen Namen benutzt?«
»Nein. Und die Marine hat mir auch keine Vergünstigungen eingeräumt. Ich durfte das Training nur machen, wenn ich die physischen Voraussetzungen dafür mitbringe, und dann auch nur so lange, wie ich die einzelnen Prüfungen bestehe. Ich wäre rausgeflogen, wie jeder andere auch.«
»Worin bestanden diese Voraussetzungen?«
»Na, man musste eine Aufnahmeprüfung machen: fünfhundert Meter schwimmen, entweder Kraul oder Brust, in höchstens zwölfeinhalb Minuten, dann zehn Minuten Pause, anschließend zweiundvierzig Liegestützen in zwei Minuten. Danach zwei Minuten Pause, dann fünfzig Situps in zwei Minuten. Wieder zwei Minuten Pause, dann acht Klimmzüge, kein Zeitlimit. Nach einer zehnminütigen Pause kam ein zweieinhalb Meilen langer Dauerlauf in Stiefeln und Drillichzeug, dafür hatten wir elfeinhalb Minuten Zeit. Und das waren nur die Mindestvoraussetzungen. Wenn man die nicht mühelos schaffte, dann hatte man keine Chance, die Ausbildung bis zum Ende durchzustehen.«
Er erzählte das alles, ohne auch nur ein wenig rascher zu atmen. Gegen ihren Willen beeindruckt, fragte sie: »Warum hast du’s gemacht?«
Er schwieg für etwa fünfzig Meter. Dann sagte er: »Je besser die Ausbildung, desto höher die Überlebenschancen. Es gab da einen Einsatz, wo ich alles brauchte, was ich hatte.«
»Wie alt warst du?« Er konnte nicht sehr alt gewesen sein, wenn er ein paar Klassen vor Dallas gewesen war, und es bedeutete, dass er schon sehr früh mit diesen »schwarzen Einsätzen« angefangen haben musste.
»Einundzwanzig.«
Einundzwanzig. Kaum aus den Teens rausgewachsen und bereits so ehrgeizig, dass er sich durch BUD/S quälte, ein so hartes Trainingsprogramm, dass es nur fünf Prozent aller Kandidaten bestanden. Jetzt wusste sie, warum er und Dallas sich in so vieler Hinsicht ähnlich waren.
»Wie lange sollen wir noch laufen?«
»Wir können jederzeit aufhören. Du bist prima in Form; darum muss ich mir also keine Gedanken machen.«
Sie verlangsamte das Tempo. »Könnte es denn sein, dass wir um unser Leben rennen müssen?«
Er verfiel neben ihr ebenfalls in Schritttempo. »Das kann man nie wissen.«
Da wusste sie, dass sie wirklich verrückt war, denn der Gedanke jagte ihr keine Angst ein.
8
»Woher wusstest du, dass ich jeden Morgen jogge?«, fragte sie ihn auf dem Rückweg zum Haus. Das Laufen hatte sie sichtlich entspannt. Und besänftigt. Der frühe Morgen war ihre liebste Tageszeit. Der Himmel bekam allmählich einen orange-rosa Schimmer, und die Vögel begannen zu zwitschern. Sie war müde, aber auch erfrischt, wie stets nach einem Dauerlauf.
»Ich hab dir doch gesagt, dass Frank dich im Auge behalten hat.«
»Bullshit.«
Er brach in Lachen aus. Mit einem irritierten Blick auf ihn fischte sie den Hausschlüssel aus ihrer Tasche und schloss die Tür auf. »Was ist so komisch?«
»Du, wenn du Schimpfwörter benutzt. Du siehst aus wie eine Madonna …«
»Wie bitte?!« Sie starrte ihn erzürnt an.
»Na, dann eben wie ein Engel. Es ist dieses engelsgleiche Gesicht.« Grinsend strich er mit dem Finger über ihre Wange und drängte sich dann an ihr vorbei, um das Haus als Erster zu betreten.
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