John Medina - 02 - Gefaehrliche Begegnung
wortloser Befehl, zu ihm zu kommen.
Sie zögerte lange, bevor sie gehorchte, lange genug, um bei ihm den Gedanken aufkeimen zu lassen, dass sie vielleicht etwas völlig Unerwartetes tun würde, wie umdrehen und weglaufen, was die Rolle der Spröden denn doch ein bisschen zu weit geführt hätte. Außerdem konnte so eine Aktion sehr leicht ihren ungewöhnlichen Beschützer auf den Plan rufen.
Doch dann ging sie langsam auf ihn zu, und er knotete sich das Handtuch fest um die Hüften, damit sie nicht merkte, was für eine Wirkung sie auf ihn hatte.
20
Niema zögerte, als sie John erblickte und setzte ihre Sonnenbrille auf, um ihre Augen vor ihm zu verbergen. Du meine Güte, der Mann zog besser ein Hemd an, bevor ihr noch das Herz stehen blieb. Gierig kroch ihr Blick über seinen ausgesprochen männlichen Oberkörper, die wohldefinierten Oberarmmuskeln, die Brustmuskeln und den gerippten Bauch. Er besaß die schönsten, kräftigsten Beine, die sie je gesehen hatte, mit langen, ausgeprägten Oberschenkelmuskeln, denen man es ansah, dass er alles machte, Joggen, Schwimmen und Krafttraining.
Auf Schultern und Brusthaaren funkelten noch einzelne Wassertröpfchen. Er hatte sich mit dem Handtuch flüchtig die Haare trocken gerubbelt und fuhr nun in Ermangelung eines Kamms mit den Fingern durch, um zumindest ein wenig Ordnung herzustellen. Er wirkte wild und gefährlich, und sie sehnte sich qualvoll danach, ihn zu berühren.
Er schlang sich das Handtuch um die Hüften und stand dann da wie eine Eiche und wartete darauf, dass sie zu ihm kam. Wenigstens verbarg das Handtuch einen Teil dieser umwerfenden Beine. Wie konnte er in einem Anzug nur so normal aussehen, wo sich solche Muskeln darunter verbargen?
Dann hatte sie ihn erreicht, und ein kleines Lächeln breitete sich über seinen Mund aus, einen Mund, der aussah, als würde er niemals lächeln, bemühe sich aber um ihretwillen. Das ist Temple, dachte sie, nicht John. John lächelte und lachte gern. Wenn er ganz er selbst war, war er ein ausdrucksstarker Mann – außer natürlich er spielte irgendeine Rolle oder war schon so lange jemand anderer, dass selbst John Medina eine Rolle für ihn geworden war.
»Einen Moment lang dachte ich, du würdest dich umdrehen und weglaufen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »So schwer darfst du’s mir auch wieder nicht machen.«
»Ich weiß schon, was ich tue.« Sie nahm auf dem Stuhl Platz, den er ihr hinhielt, und es war ihr egal, ob sie gereizt klang oder nicht. Sie war gereizt. Sie hatte kaum geschlafen, und ihre Nerven lagen blank.
Er stand hinter ihr und schaute auf sie hinunter; sie spürte ihn förmlich, wie er vollkommen reglos in ihrem Rücken stand. Dann schob er seine Hand in den Kragen ihrer Bluse und strich leicht mit der Handfläche über ihre Schulter, eine Bewegung, die verträumt und hingerissen wirkte, als könne er keine Sekunde länger die Finger von ihr lassen. Nur der dünne Träger ihres ärmellosen Hemds war im Weg, doch für ihn hätte er ebenso gut überhaupt nicht existieren können. Sie erschauderte, als sie seine warme Hand spürte, die ihre Bluse gerade so weit zurückschob, um diese eine Schulter und den Oberarm streicheln zu können. Es war die zurückhaltendste, erotischste Liebkosung, die sie je erlebt hatte, und ihr ganzer Körper reagierte schlagartig darauf. Ihre Brustwarzen wurden steif, ihr Magen zog sich zusammen.
Dann schob er die Bluse behutsam wieder zurück, trat um den kleinen Tisch herum und nahm ihr gegenüber Platz. Als er ihr den Rücken zukehrte, sah sie die dünne, etwa zehn Zentimeter lange Narbe auf seinem linken Schulterblatt. Sie wusste zwar, dass sie unecht war, hätte aber nicht sagen können, wie man so etwas hinkriegen konnte. Sie sah jedenfalls sehr echt aus.
Dann nahm er, das Gesicht ihr zugewandt, auf dem Stuhl Platz, und sie blinzelte erstaunt, als sie den winzigen Diamantohrstecker in seinem linken Ohr erblickte. Seine Ohrläppchen hatten keine Löcher, das wäre ihr aufgefallen. Und gestern Abend hatte er auch keinen Ohrring getragen. Nun ja, wer eine falsche Narbe hatte, konnte auch ein falsches Ohrloch haben; wahrscheinlich war der Stecker angeklebt. Auch der veränderte Haaransatz wirkte vollkommen echt. All diese kennzeichnenden Kleinigkeiten waren falsch; ohne sie würde man ihn nie als Joseph Temple erkennen, obwohl es dasselbe Gesicht war. Solange es keine Röntgenbilder von seinen Zähnen gab oder DNA-Proben, war er nicht identifizierbar.
Ein Kellner
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