Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
begriffen.«
»Nein«, rief Jonathan, nun ebenfalls wütend. »Wie soll ich es denn auch begreifen? Meine Mutter wird entführt, aber keiner von euch redet mit mir. Niemand will mir auch nur eine einzige Frage beantworten!«
»Dein Vater hat seine Gründe dafür, und langsam verstehe ich sie. Du bist aufsässig, stur und leichtsinnig. Heute hast du bewiesen, dass du noch lang nicht bereit bist für dieses Wissen.«
»Und wann bin ich bereit?«
»Wenn du gelernt hast, demütig und geduldig zu sein«, entgegnete Cassius aufgebracht. »Wenn du dich als würdig und vertrauensvoll erwiesen hast, dann bist du bereit!«
Jonathan sprang vom Tisch auf. »Wenn du so viel weißt, warum sitzt du dann noch hier herum und bastelst an deinem verdammten Motorrad, während mein Vater allein gegen Riot antritt? Du versteckst dich hier draußen am Ende der Welt wie ein Feigling.«
Hinter Cassius’ faltiger Miene tobte ein Sturm. Jonathan war selbst überrascht über seine Worte. Er wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte, doch er verspürte keinen Triumph. Er hätte jetzt einen Freund gebraucht, jemanden, der zu ihm hielt, anstatt ihn niederzumachen. Ihr Streit war sinnlos.
»Vielleicht habe ich keine Demut, aber wenigstens unternehme ich etwas!«, sagte er leise. »Ich kann nicht einfach dasitzen und die Hände in den Schoß legen, während Mama in den Händen dieses Verrückten ist.«
»Du hilfst ihr nicht, indem du dich in Gefahr begibst.«
»Welche Gefahr? Es ist doch nur ein blödes leeres Haus! Oder etwa nicht? Was weißt du darüber, Onkel Cassius?«
Cassius ging zum Fenster und stützte sich mit beiden Händen auf dem Sims ab. Jonathan sah das Spiegelbild seines Gesichts und erschrak, als er die Sorgenfalten bemerkte.
»Du wirst noch lernen müssen, dass die Dinge nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen«, sagte sein Onkel. »Dein Vater ist nicht der Einzige, der ein Geheimnis mit sich herumschleppt. Das Haus wurde vor vielen, vielen Jahren verlassen. Es kann nicht zerstört werden, also haben mächtige Leute alles dafür getan, dass es in Vergessenheit gerät. Es birgt … Dinge, die sehr gefährlich sind. Viel gefährlicher, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst.«
»Es war einmal im Besitz unserer Familie, nicht wahr?«
Erstaunt sah Cassius ihn an. »Woher weißt du …« Verärgert schüttelte er den Kopf. »Das spielt jetzt keine Rolle. Ich werde mein Versprechen halten und dich beschützen, bis Cornelius wieder da ist. Das bedeutet, dass du ab sofort striktes Ausgehverbot hast. Du wirst die Burg nicht mehr verlassen.«
Jonathan sog scharf Luft ein.
Cassius’ Miene verhärtete sich. »Komm ja nicht auf die Idee, mir zu widersprechen. Du bleibst hier, wo ich dich im Auge habe. Ein wenig Arbeit wird dich davon abhalten, weiter auf dumme Gedanken zu kommen.«
Nein, Jonathan wollte nicht mehr streiten. Es hatte keinen Sinn, seinen Onkel überzeugen zu wollen. Ohne ein weiteres Wort ging er auf sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Er warf sich auf das Bett und kämpfte gegen die Tränen der Wut. Sein Entschluss stand fest, und auch Cassius konnte nichts daran ändern. Was auch geschah, er würde alles tun, um das Geheimnis seiner Familie zu ergründen und seinen Eltern zu helfen.
* * *
Cassius stand zu seinem Wort. Am kommenden Tag ließ er Jonathan nicht aus den Augen, teilte ihn zur Arbeit ein und sorgte dafür, dass er nicht zur Ruhe kam. Jonathan musste den Boden wischen, Holz sägen, Unkraut jäten, den Zaun streichen und eine Menge anderer mehr oder minder sinnvoller Tätigkeiten verrichten. Cassius überwachte ihn mit Argusaugen und hob warnend die Brauen, wenn er sich auch nur in die Nähe des Burgtores wagte. Bis in die Abendstunden ließ er ihn schuften und war erst zufrieden, als er sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Nach einem reichlichen Abendessen bat Jonathan darum, ins Bett gehen zu dürfen. Cassius nickte zufrieden. Ihn müde zu machen war von Anfang an sein Plan gewesen. Er ahnte nicht, dass Jonathan ihm nur etwas vorspielte.
Als es dunkel wurde, ging sein Onkel hinüber in den Bergfried. Jonathan fragte sich noch immer, was sich in seinem Inneren befand und womit Cassius sich seine Zeit vertrieb, aber im Augenblick wollte er vor allem eines: unbemerkt verschwinden. Er zog seinen dunklen Pullover mit der Kapuze über, schnappte sich seinen Rucksack und stieg leise aus dem Fenster. An den Efeuranken kletterte er die Wand
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