Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Waldes. Jonathan und Eliane kämpften sich durch das Gestrüpp, ignorierten Schmerz und Kälte und stolperten blind vorwärts, bis die Dunkelheit sie einschloss. Nur hier und da gelangte milchiges Mondlicht durch das Astwerk. In der Ferne blitzten die Taschenlampen der Männer durch den Wald. Sie waren schnell. Zu schnell.
»Was jetzt?«, keuchte Eliane.
»Der Baum dort!« Jonathan deutete auf eine verkrüppelte Eiche, deren ausladendes Astwerk fast bis zum Boden hing.
Rasch zogen sie sich an den knorrigen Ästen empor.
»Beeil dich!«, rief sie. »Ich kann sie bereits sehen!«
So schnell es die Dunkelheit erlaubte, kletterten sie nach oben. Unter ihnen flackerte das Licht mehrerer Taschenlampen. Die Männer suchten ihre Spuren, bis sie sich auf dem moosigen Waldboden verloren. Sie warfen sich gegenseitige Schuldzuweisungen an den Kopf.
»Jetzt beruhigt euch!«, brummte einer. »Die beiden Hosenscheißer haben doch keine Chance. Der Ring wird sie schon aufhalten.«
Angespannt klammerte sich Jonathan am Baumstamm fest und hoffte, dass sie nicht auf die Idee kamen, ihre Taschenlampen nach oben zu richten. Unweigerlich fragte er sich, wie es seinem Vater und seinem Onkel gerade erging. Er schickte ein kurzes Gebet zum Himmel, das auch seine Mutter einschloss, und wartete, bis die Männer ihren Weg fortsetzten und verschwanden. Als ihre Stimmen in der Ferne verklungen waren, tauschte er einen Blick mit Eliane, die ihm zunickte. Gemeinsam machten sie sich an den Abstieg.
Im Gänsemarsch liefen sie durch die Dunkelheit, wobei Eliane ihre Spuren so gut wie möglich mit Birkenzweigen verwischte. Sie fanden den Bach, von dem Cassius gesprochen hatte, und folgten seinem Lauf. In Jonathans Kopf kreisten die letzten Worte des Mannes: Der Ring wird sie aufhalten … Was konnte damit gemeint sein? Eine weitere wundersame Waffe? Fröstelnd vergrub er seine Hände in den Jackentaschen.
»Ich glaube, jetzt sind wir weit genug weg«, flüsterte er und wühlte zwei Taschenlampen aus seinem Rucksack hervor.
Er wollte sie einschalten, als Eliane warnend nach Osten deutete. Dort stieg Qualm aus dem Wald auf.
»Das sind sie …«, flüsterte sie.
Seine Hand wanderte zu der Brusttasche, in der das Herz des Lazarus versteckt war. Wie immer, wenn er es berührte, stieg sein Puls kurzzeitig an. Sie gingen in Deckung und wollten sich davonstehlen. Als sie sich umdrehten, standen sie einer kleinen Gestalt gegenüber, die einen Umhang trug und ihr Gesicht unter einer Kapuze verborgen hielt. Lange Fingernägel klapperten leise, als vollführten sie einen Freudentanz.
»Aurora«, brach es aus Jonathan hervor.
Eliane wollte flüchten und lief geradewegs in die Arme einer hochgewachsenen Frau, die sie packte.
»Schön hiergeblieben, kleine Landpomeranze«, lachte sie.
Eliane fluchte und schlug um sich, ohne etwas ausrichten zu können. Aurora würdigte sie keines Blickes. Sie ging auf Jonathan zu und ließ spielerisch ihre Finger vor ihm kreisen. Ihre dünnen Lippen formten ein Lächeln.
»Du widersetzt dich den Giften, die ich unter meinen Nägeln trage, du bringst deinen Vater dazu, sein Eyn aufzugeben, du schaffst es, den alten Eremit Cassius wieder an seine Aufgabe zu erinnern und das Herz des Lazarus in deine Gewalt zu bringen. Du störst unsere Organisation und bringst Unruhe, wo du auch auftauchst. Du bist ein beeindruckender Bursche, Jonathan Harkan.«
»Und Sie sind eine Verräterin«, antwortete Jonathan kalt.
Ein Muskel zuckte in Auroras Gesicht. Sie ließ die Beleidigung unkommentiert und griff geradewegs in seine Brusttasche, um sich das Herz des Lazarus zu holen. Eliane schrie empört auf.
»Du kennst jetzt also die Kräfte dieses kleinen Wundersteins«, sagte Aurora und drehte das Herz aufmerksam in ihrer Hand, ehe sie es in einer Tasche ihres Umhangs verschwinden ließ. »Das ist nur ein kleiner Teil der Wunder, die dich erwarten, wenn du dich für die richtige Seite entscheidest. Einen Jungen mit deinen Talenten könnten wir brauchen.«
Aurora war klein, und doch spürte Jonathan die Aura von Macht, die sie umgab. Eine seltsame vibrierende Energie, die ihn faszinierte und ängstigte zugleich. Sein Kopf schwirrte, so wie in jener Nacht, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Wieder überkam ihn der Drang nach Schlaf. Er wollte dagegen ankämpfen, er wollte das Herz des Lazarus an sich reißen und davonlaufen, doch seine Sinne waren zu benebelt.
»Ihr habt meine Mutter entführt und meinen Vater fast umgebracht.
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