Jones, Diana Wynne
»Hol die kleine Flasche aus dem Wagen.«
Moril starrte seine Mutter an, während sie Clennen versorgte und Brid anwies, was sie zu tun habe. Die einzige Gefühlsregung entfuhr ihr, als ihr eine Haarsträhne herabfiel und den Verbänden ins Gehege kam. »Verwünschte Zauseln!«, rief sie da. »Brid, bind sie mir wieder hoch.«
Brid versuchte noch immer, Leninas Haar mit einem Band zu umwickeln, als Dagner die Flasche brachte. »Glaubst du, du kannst ihn retten?«, fragte er flehend, als hinge es von Leninas Gutdünken ab.
Sie hob den Kopf und blickte ihn ruhig an.
»Nein, Dagner. Ich kann nicht mehr tun, als ihn noch ein Weilchen bei uns zu halten. Er wird noch etwas sagen wollen. Das wollte er immer.« Sie nahm Dagner die Flasche ab und entkorkte sie.
Moril sah ihr untröstlich zu, wie sie versuchte, Clennen etwas von der Flüssigkeit aus der Flasche einzuflößen. Es war furchtbar ungerecht. Warum musste sein Vater ausgerechnet so sterben, am frühen Morgen, meilenweit entfernt von der nächsten Ortschaft? Er hätte eine Warnung erhalten müssen. Clennen der Barde hätte vor einem Publikum sterben sollen, Musik hätte dabei spielen müssen – solch ein Tod wäre ihm angemessen gewesen.
Musik war natürlich möglich. Moril fand sich neben dem Wagen wieder, ohne genau zu wissen, wie er dorthin gekommen war. Er kletterte hinauf und packte die nächst liegende Quidder. Zufällig war es die Große. Unter gewöhnlichen Umständen hätte Moril sich nicht für sie entschieden. Doch unter der Plane wurde ihm mulmig und übel, deshalb nahm er die erste Quidder, die ihm in die Hände fiel, und sprang damit hastig vom Wagen.
Während er sich den Tragegurt umhängte, bemerkte er, dass Clennens Augen offen standen, und ganz ohne Zweifel war er mit Moril einer Meinung. Mit belegter, aber recht kräftiger Stimme sagte er: »Das kam aber aus heiterem Himmel, was? Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie mir vorher etwas gesagt hätten.«
Moril griff in die Saiten und begann sehr leise die eigenartig gebrochene Melodie von ›Manaliabrids Klage‹ zu spielen. Die Quidder bereitete ihm nicht die mindeste Mühe. Das alte Lied kam ihm nun viel melodischer als gewöhnlich vor, und es verbreitete sich über die Wasserfläche, bis das ganze kleine Tal davon erfüllt schien. Moril hörte, wie die Wälder auf der anderen Seite des Gewässers die Klänge zurückwarfen.
So sehr füllte ihm diese Musik die Ohren, dass er nicht viel von dem hörte, was Clennen noch sagte. Des Vaters Stimme wurde nach dieser ersten Bemerkung ohnehin zusehends schwächer, und zu Lenina sprach er nur in leisem Murmeln. Dann redete er eine Weile zu Brid, und als er ihre Hand nahm, begann sie zu weinen. Als Nächster war Dagner an der Reihe. Clennen war nun schon sehr schwach. Dagner musste das Ohr ganz nah ans Gesicht des Vaters halten, um ihn zu verstehen. Moril spielte weiter, so leise er konnte, und sah zu, wie Dagner zuhörte und nickte. Er wunderte sich ein wenig darüber, wieviel Clennen anscheinend noch zu sagen hatte. Dann blickte Dagner auf und winkte Moril herbei.
»Er möchte mit dir reden. Beeil dich.«
Aus Angst, Zeit zu vergeuden, wagte Moril es nicht, die Quidder abzunehmen. Während er zu Clennen eilte, schlug sie ihm gegen Knie und Oberschenkel, und er schob sie auf die Seite, als er niederkniete. Clennens Gesicht war bleicher als irgendeines, das Moril je gesehen hatte. Die Augen schienen den leuchtenden Himmel nicht mehr widerzuspiegeln, und auch nicht Moril, der sich über ihn beugte, obwohl Clennen ihn eindeutig sehen konnte.
»Hast du also die große Quidder, ja?«, fragte Clennen. Moril nickte. Die Stimme versagte ihm den Dienst. »Hüte sie gut«, sagte Clennen. »Sie gehört jetzt dir. Ich wollte sie immer dir geben, Moril, weil ich glaube, dass du die Gabe hast. Oder haben wirst. Aber vorher musst du mit ihr ins Reine kommen, und mit dir auch. Verstehst du mich?« Moril nickte wieder, obwohl er Clennens Worte nicht im Mindesten begriff. »Noch bist du in zwei Hälften gespalten«, fuhr der Vater fort. »Das habe ich oft gedacht. Füg sie zusammen, diese Hälften, Moril, und keiner kann sagen, was du noch zuwege bringst. Große Macht liegt in dieser Quidder, wenn du sie zu nutzen weißt. Sie hat einst Osfameron gehört. Er konnte sie sich dienstbar machen. Sie ist immer vom Vater auf den Sohn vererbt worden und schließlich auf mich übergegangen. Ich konnte sie nicht nutzen. Nur einmal habe ich ihre Kraft gefunden, als ich…«
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