Josef und Li: Roman (German Edition)
die Ratte zurück. Und Josef war so traurig, dass er nicht einmal Li Nguyen besuchte, die ihm mit der Taschenlampe ein heimliches Signal ins Fenster schickte, er solle gleich in den Hof kommen. Stattdessen kroch er ins Bett von Frau Kličková.
Er zog sich die Decke über den Kopf und stellte sich vor, er wäre im Zelt und es würde regnen. Und dann stellte er sich noch vor, dass um das Zelt herum ein Schwarm wütender, faustgroßer Wespen flöge, aber er war in Sicherheit und im Zelt roch es nach der weißen Seife, die Frau Kličková am liebsten mochte, und auch ein wenig nach Zwiebel.
Josef nestelte unter dem Kissen von Frau Kličková nach einem Taschentuch, um sich die Nase zu putzen, doch statt eines Taschentuchs zog er einen Umschlag hervor.
Fremde Briefe soll man nicht lesen, doch das hier war eine Ausnahmesituation, und so überlegte er nicht lange und las den Brief. Darin stand: Liebe Saschenka, nach jahrelangem Herumirren in der Welt bin ich wieder zurück in unserem alten Haus. Den Weg muss ich Dir wohl nicht beschreiben. Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns treffen würden. Am Freitag, den
13. November, möchte ich meine Rückkehr feiern. Dabei darfst Du nicht fehlen! Ich freue mich auf Dich und küsse Dich, O. Matějů.
Josefs Bedrücktheit war im Nu verflogen. So ein O. Matějů hatte doch gar kein Recht, Frau Kličková irgendwohin einzuladen und schon gar nicht zu küssen! Und unmittelbar darauf wurde ihm bewusst, dass Freitag war und zu allem Überdruss auch noch der dreizehnte November.
In Windeseile drehte Josef den Umschlag um und las sich die Adresse durch. Hohlweg 56. Dort war also Frau Kličková jetzt! Josef bekam solch einen Energieschub, dass er sich auf einen Kampf mit einem Schwarm fußgroßer Hornissen eingelassen hätte. Warum dann nicht gleich mit so einem O. Matějů.
»Warte! Wohin willst du?«, rief im Vendula hinterher, doch da rannte er schon die Treppe hinunter, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm und einen Augenblick später verschluckte ihn die Dunkelheit der Durchfahrt.
Er kam erst an der Straßenbahn-Haltestelle zu stehen, wo er den Stadtplan entfaltete, den er geistesgegenwärtig eingesteckt hatte. Der ›Hohlweg‹ glich darin einem zarten Faden. Und er war furchtbar weit weg. Fast am anderen Ende von Prag.
Josef musste die Straßenbahn nehmen, den Bus und dann noch genau den gleichen Bus, allerdings in die umgekehrte Richtung, denn eine Zeit lang hielt er die Karte verkehrt herum.
Er stieg an einer Haltestelle aus, an der keine Geschäfte oder Leuchtreklamen die Nacht erhellten, es gab keine Eckkneipen, keine Kaffeehäuser, Teestuben oder Bürohäuser, es
fuhren keine Autos und nirgendwo war auch nur ein Geräusch zu hören.
In diesem Viertel herrschte totale Stille und Dunkelheit. Nur aus den Häusern, die in den Tiefen der Gärten weit von den öffentlichen Wegen entfernt und durch große Zäune abgegrenzt waren, schimmerte von Zeit zu Zeit ein Lichtlein.
Josef bereute, dass er seine Taschenlampe nicht mitgenommen hatte, um die Karte lesen zu können. So hatte er bald den Eindruck, schon alle Straßen kreuz und quer abgegrast zu haben und sich im Kreis zu drehen, und dennoch war kein Hohlweg weit und breit. Der Grund dafür war ein Hund, der jedes Mal, wenn Josef nun wohl schon zum fünften Mal den gleichen Eisenzaun passierte, die Zähne fletschte. Doch weder bellte er, noch knurrte er. Es dauerte eine gute Stunde, bis Josef den Hohlweg endlich fand.
Es war eine Sackgasse, eingekeilt zwischen aufgetürmten Hollunderbäumen, auf denen jetzt im Spätherbst noch immer Dolden mit schwarzen Kügelchen im Wind wippten.
In Josefs Viertel hatten die Spatzen schon alle Hollunderbeeren abgepickt. Hier aber hingen sie völlig unberührt an den nackten Ästen. Josef wollte ein paar von den Kügelchen vom Ast pflücken, aber sobald er den Arm in Richtung des Busches reckte, hörte er eine Stimme von oberhalb: »Pfoten weg, aber dalli, du Frechdachs!« Josef zuckte zusammen und blickte hoch.
Auf der Mauer, die den letzten Garten der Straße umgab, saß eine Katze und fixierte Josef mit ihren Sehschlitzen. Ach, deshalb gibt es hier noch so viele Hollunderbeeren, dachte Josef. Das Biest vertreibt alle Vögelchen. »Oder frisst sie«, miaute
es wieder von oben herab. Und Josef stellte am Klingelschild fest, dass er sich direkt vor dem Haus von Herrn O. Matějů befand.
Wer weiß, ob er den Mumm gehabt hätte zu klingeln. Noch bevor er alles gründlich durchdenken
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