Judith
«
Raine starrte auf das Schachbrett. »So schnell? Das ist doch unmöglich. Ich habe es nicht einmal gemerkt. Du hast mich mit Reden abgelenkt, so daß ich mich nicht konzentrieren konnte. « Er warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Mein Bein tut sehr weh. Da fällt es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. «
Judith war sofort besorgt. Doch dann lachte sie. »Raine, du machst mir etwas vor. Du bist ein ganz hinterhältiger Mensch. So, ich muß jetzt weiter. «
»Nein, bitte nicht. « Er umklammerte ihre Hand und küßte jeden einzelnen Finger. »Ich langweile mich so, daß ich fürchte, den Verstand zu verlieren. Bleib noch. Auf ein Spiel, ja? «
Judith streichelte über sein Haar. Und Raine überbot sich in Komplimenten und Schmeicheleien, um sie doch noch umzustimmen. So fand Gavin die beiden, als er den Raum betrat.
Er hatte fast vergessen, wie schön sein Eheweib war. Sie war zwar nicht mehr in Samt und Seide gekleidet wie zu der Hochzeitsfeier, aber sie sah auch in dem schlichten, eng anliegenden Kleid aus blauer Wolle lieblich aus. Sie hatte ihr wie Gold schimmerndes Haar zu einem langen Zopf geflochten und wirkte mädchenhaft, wie ein Bild der Unschuld, obwohl die üppigen Rundungen ihres Körpers bewiesen, daß sie eine Frau war.
Judith wurde die Gegenwart ihres Gatten zuerst bewußt. Das Lächeln in ihrem Gesicht erlosch, und ihr Körper versteifte sich.
Raine merkte es und sah auf — direkt in das grimmige Gesicht seines Bruders. Es gab keinen Zweifel daran, was Gavin von dieser Szene hielt.
Als Judith hastig zur Seite treten wollte, hielt Raine sie fest. Er wollte vor seinem wütenden Bruder nicht den Zerknirschten und Schuldbewußten spielen.
»Ich versuchte gerade, Judith zu bewegen, mir Gesellschaft zu leisten«, sagte er leichthin. »Seit zwei Tagen sitze ich hier und bin zum Nichtstun verdammt. Aber sie hat einfach keine Zeit für mich. «
»Und du hast nichts unversucht gelassen, sie umzustimmen? « knurrte Gavin. Sein Blick hing an Judith, die ihn kühl musterte.
Judith machte sich mit einem Ruck von Raine los. »Ich muß an meine Arbeit«, sagte sie und verließ den Raum.
Raine ging zum Angriff über, ehe Gavin sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Wo warst du? Du bist drei Tage verheiratet und setzt deine Frau mit ihrem Gepäck auf der Türschwelle ab? «
»Nun, sie scheint die Situation ja gut geregelt zu haben«, brummte Gavin, als er auf einen Stuhl sank.
»Wenn du ihr da etwas Unehrenhaftes vorwerfen willst… «
»Nein, will ich nicht. « Gavin wußte, daß sein Bruder nie versuchen würde, sich Judith zu nähern. Seine Rückkehr war nur so eine Enttäuschung für ihn gewesen. Er hatte etwas anderes erwartet. »Was ist mit deinem Bein? «
Es gefiel Raine nicht sehr, dem Bruder zu gestehen, daß er vom Pferd gefallen war. Aber zu seiner Verwunderung lachte Gavin ihn nicht einmal aus, sondern erhob sich schwerfällig von dem Stuhl.
»Ich will mich hier umsehen, denn ich war lange fort. Wahrscheinlich sind viele Dinge zu regeln. «
»Du wirst überrascht sein! « Raine sah auf das Schachbrett und versuchte herauszufinden, welche Züge Judith gemacht hatte. »Ich habe noch keine Frau so arbeiten sehen wie Judith. «
Gavin verzog nur den Mund. »Was kann eine Frau schon in einer Woche tun? Ein paar Blüten in einen Gobelin sticken vielleicht… «
»Ich habe nichts davon gesagt, daß sie Frauenarbeit geleistet hat. Du hast mich falsch verstanden, lieber Bruder. «
Gavin verstand tatsächlich nicht, was Raine meinte. Er wußte aus Erfahrung, daß vieles drunter und drüber ging, wenn er mal für einige Zeit fort war.
Raine wußte, was in Gavin vorging. »Ich hoffe, du findest noch etwas zu regeln! « rief er ihm nach.
Wenig später verließ Gavin das Haus. Er war noch immer wütend, weil das Wiedersehen mit Judith nicht so verlaufen war, wie er es sich vorgestellt hatte.
Bei seiner Ankunft hatte er es so eilig gehabt, zu seinem >sich nach ihm verzehrenden Eheweib< zu kommen, daß ihm die Veränderungen in der Burg nicht aufgefallen waren.
Die Unterkünfte an der äußeren Burgmauer waren mit frischer Kalkfarbe gestrichen worden und sahen sauber und ordentlich aus. Die Gräben dahinter, die sonst voller Abfälle waren, hatte man offensichtlich vor kurzem erst ausgeräumt.
Gavin blieb bei den Mauserkäfigen stehen. Hier wurden Falken, Merline, Wanderfalken, Sperber und Jagdfalken gehalten. Sein Falkner stand vor einem Pfosten, auf dem ein Falke an
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