Judith
»Hol mir Wein. Ich bin sicher, daß sie nicht eher zufrieden ist, bis sie mir noch mehr Schmerzen zugefügt hat. Und wecke meinen Bruder. Warum soll er schlafen, wenn wir wach sind? «
»Er ist nicht hier«, sagte Judith.
»Wer? «
»Dein Bruder — mein Gemahl. « Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
»Wo ist er hin? Was war so wichtig, daß er die Burg verlassen.
»Ich weiß es nicht. Er hat mich hier abgesetzt und ist sofort aufgebrochen. Er hat mir kein Wort von dem gesagt, was er vorhat. «
Raine setzte den Becher an die Lippen, den ihm sein Vasall gebracht hatte, und beobachtete, wie Judith sein Bein abtastete. Er verwünschte seinen Bruder und war sicher, daß Gavin zu dieser Hure, dieser Lilian Valence, unterwegs war.
Er preßte die Zähne zusammen, als Judith den gebrochenen Knochen berührte.
»Dachte ich mir’s doch«, sagte sie. »Dies hier ist Pfuscharbeit. Halt seine Schulter fest, ich will den Bruch richten. «
Auf dem Zeltdach hatte sich soviel Wasser angesammelt, daß es allmählich durch den Stoff sickerte.
Gavin fluchte laut, als immer mehr Tropfen auf ihn fielen. Seit Tagen regnete es nun schon. Alles war naß, und die Stimmung seiner Männer war schlecht. Sie wußten nicht, warum sie durchs Land ritten und dieses trübe Wetter draußen ertragen mußten.
Als John Bassett, Gavins erster Vasall, seinen Herrn nach dem Grund ihres Umherstreifens fragte, war Gavin explodiert. «
Gavin wußte, daß seine Männer mißmutig waren. Er war es auch. Aber wenigstens war er nicht ohne Grund auf dieser rastlosen Wanderung.
In der Nacht im Haus ihres Vaters, als sie so abweisend gewesen war, hatte er beschlossen, Judith eine Lehre zu erteilen. In ihrer gewohnten Umgebung fühlte sie sich sicher. Aber was würde sie tun, wenn sie in einem fremden Haus lebte? Vielleicht sehnte sie sich jetzt schon nach seinem Schutz, seiner starken Hand?
Gavin nickte bei diesen Gedanken zufrieden. All die Unbequemlichkeiten hatten sich gelohnt. Er glaubte, ganz sicher zu sein, daß Judith ihre Fehler inzwischen eingesehen hatte.
»Mein Lord? «
»Was ist? « fuhr Gavin ungeduldig auf, weil er in seinen erfreulichen Gedanken gestört wurde.
»Wann werden wir in die Burg zurückkehren? Dieses Wetter ist nicht zu ertragen und… «
Gavin brachte John zum Schweigen, indem er die Hand hob. Er war ärgerlich, weil man mit einem solchen Anliegen zu ihm kam. Er hatte schließlich zu bestimmen, was getan wurde und was nicht.
Doch plötzlich verging seine schlechte Laune. »Morgen reiten wir nach Hause! « erklärte er.
Judith war nun seit acht Tagen allein. Das würde reichen, sie gefügig und sanft zu machen.
»Bitte, Judith… « Raine faßte nach ihrem Arm und hielt sie fest. »Seit zwei Tagen hast du nun schon keine Zeit für mich. «
»Das ist nicht wahr! « Judith lachte. »Wir haben erst gestern abend zusammen Schach gespielt, und du hast mir ein paar Akkorde auf der Laute beigebracht. «
Raine sah sie weiter bittend an. »Es ist schrecklich, immer so allein zu sitzen. Ich kann mit diesem verdammten Bein ja keinen Schritt tun. Niemand leistet mir Gesellschaft. «
»Es gibt dreihundert Leute hier in der Burg. Sicherlich bist du… « Sie brach ab, als Raine sie mit traurigen Augen ansah. »Also gut, aber nur ein Spiel. Ich habe noch zu tun. «
Raine strahlte, als sie an der anderen Seite des Schachbretts Platz nahm. »Du spielst von allen am besten. Von meinen Männern kann mich keiner schlagen, aber du hast es gestern geschafft. Du brauchst mal eine Ruhepause. Was treibst du bloß den ganzen Tag? «
»Ich bringe hier in der Burg alles in Ordnung. «
»Mir schien hier immer alles in Ordnung zu sein«, meinte Raine, als sie eine Figur setzte. »Die Verwalter… «
»Diese Leute kümmern sich nicht so um die Verwaltung wie jemand, der sein Eigentum versorgt. Man muß sie überwachen, ihre Bücher prüfen und alles nachlesen… «
»Du kannst lesen, Judith? «
Verwundert sah sie ihn an. »Aber natürlich. Du etwa nicht? « Raine zuckte die Schultern. »Das habe ich nie gelernt. Meine Brüder können es, aber mich hat es nicht interessiert. Mir ist noch nie eine Frau begegnet, die lesen kann. Mein Vater sagte immer, daß Frauen es nicht lernen können. «
Judith setzte wieder eine Figur und brachte damit Raines König in Gefahr. »Du solltest endlich begreifen, daß eine Frau in manchen Dingen einem Mann auch überlegen sein kann, sogar einem König. Und ich glaube, ich habe dieses Spiel für mich entschieden.
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