Julia Collection Band 26
gab keine Scherze mehr, kein ungezwungenes Geplänkel. Er bedankte sich zwar höflich für das Boeuf Bourguignon, zeigte sich jedoch nicht sonderlich erfreut. Nach dem Essen zog er sich sofort in sein Büro zurück.
Charity rief ihren Vater an und musste die Tränen zurückhalten, als sie seine vertraute Stimme hörte. Dann tat sie, als wäre alles durchaus erfreulich, und versicherte, es sei sehr schön und sie habe Hinweise auf Tim gefunden. Außerdem seien alle Leute in der Gegend davon überzeugt, dass es ihm gut gehe. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn finden würde. Zum Glück stellte ihr Vater keine unangenehmen Fragen.
Hinterher griff sie im Wohnzimmer nach einem Taschenbuch, um es im Bett zu lesen, doch dann lag sie nur da und dachte an Kane und an die Gefühle, die er bei ihr ausgelöst hatte. Wie gern hätte sie ihm vertraut …
Irgendwann schlief sie ein und träumte …
„Mutter, ich bin daheim!“
Sie drückte die Hintertür auf, lief ins Pfarrhaus und ließ die Schultasche auf den Küchenboden fallen. Es war Freitagnachmittag. Das ganze Wochenende lag vor ihr. Im Haus duftete es nach Backen, und neben dem Herd entdeckte sie einen Kuchen sowie Plätzchen.
„Mutter?“, rief sie, als sie keine Antwort erhielt. „Mutter, wo bist du?“
Stille.
Sie ging ins Wohnzimmer.
Um Himmels willen! Ihre Mutter lag auf dem Boden, einen Arm von sich gestreckt. Der Mund war schlaff, die Lippen waren blass.
Nein, nein, nein! Mummy! Nein, nein!
Weinend und schreiend schaffte Charity es irgendwie zum Telefon. Voll Entsetzen wartete sie, bis die Sanitäter mit einer Trage ins Haus stürmten.
„Hast du versucht, sie wiederzubeleben?“, fragte ein massiger Mann mit einem geröteten Gesicht.
„Nein“, schluchzte sie. „Ich kann das nicht.“
Hätte sie doch bloß bei dem Erste-Hilfe-Kurs in der Schule mitgemacht!
Der Mann schüttelte den Kopf und half dann seinem Kollegen, ihre Mutter wegzutragen.
Am nächsten Tag sah Charity den Fremden. Kane war wieder weg. Beim Frühstück hatte er erwähnt, dass er fast den ganzen Tag unterwegs sein würde. Diesmal erklärte er nicht, worum es ging, und sie wurde den Eindruck nicht los, dass er ihr und ihren ärgerlichen Fragen bewusst auswich.
Am Vormittag arbeitete sie im Wohnzimmer, wischte Staub, polierte die schönen alten Möbel, schüttelte die Kissen auf, füllte frisches Wasser in die Vasen und ordnete die Blumen neu. Bei der Gelegenheit sah sie durchs Fenster einen Mann mit einem schwarzen breitkrempigen Hut. Er kam über den Rasen aufs Haus zu.
Kanes Warnung hatte ihr Angst gemacht. Außerdem wirkte noch der Albtraum der letzten Nacht in ihr nach. Beim Anblick des Fremden krampfte sich ihr der Magen zusammen, und sie bekam eine Gänsehaut.
Der Mann war scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht. Nirgendwo war ein Wagen zu sehen. Außerdem wirkte seine ganze Art unheimlich.
Charity wagte kaum zu atmen und überlegte, was sie machen sollte, falls er ins Haus kam. Wo war Vic?
Lavender bellte. Der Mann redete beruhigend auf den Hund ein. Stille. Kannte Lavender den Fremden? Jedenfalls gab sie nicht mehr Laut.
Es klopfte an der Hintertür. Charity hatte zwar damit gerechnet, zuckte aber trotzdem erschrocken zusammen. Sie würde keinesfalls öffnen. Wenn der Kerl mit jemandem sprechen wollte, sollte er sich an Vic wenden.
Ängstlich lauschte sie und hoffte, dass sich Schritte entfernen würden, doch von draußen hörte sie nur das Zischen der Sprinkleranlage und das Quietschen der alten Windmühle. Schließlich wurde die Hintertür geöffnet.
Schritte. Schritte im Haus!
Entsetzt überlegte sie, wo sie sich verstecken sollte. Hastig zog sie die Stiefel aus und wartete, bis sie den Eindringling in der Küche hörte. Dann huschte sie auf Socken durch den Korridor in Annies Zimmer.
Ohne lange zu überlegen, öffnete sie die Tür des Einbauschranks, zwängte sich zwischen Annies Kleider und schloss die Tür wieder.
Obwohl sie eisern versuchte, sich zu beherrschen, klang ihr Atem in dem engen Raum erschreckend laut. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während der Klang der Schritte durchs Haus wanderte, mal durch Teppiche gedämpft, dann wieder deutlich hörbar auf Holzfußboden.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Wer war dieser Mann? Warum hatte Kane damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte?
Hatte das alles vielleicht mit Tims Verschwinden zu tun?
Nein, sie durfte nicht an Tim denken, sonst würde sie noch völlig in Panik geraten.
Sie
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