JULIA EXTRA BAND 0273
andererseits aber auch zutiefst frustrierend. Besonders, wenn es darum ging, Penny zu erziehen. Denn wenn Charles ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er dazu, als Angelina noch am Leben war, kaum etwas beigetragen hatte. Allerdings war Angelina keine sehr liebevolle Mutter gewesen, eher eine gute Managerin mit sehr genauen Vorstellungen, was gesellschaftliche Ambitionen betraf. Sie hatte die richtige Schule ausgesucht, bei deren Veranstaltungen mitgewirkt und dafür gesorgt, dass Penny nach dem Unterricht versorgt wurde und beschäftigt war. Bei der Durchführung der „Operation Kindererziehung“, wie Charles es insgeheim bezeichnet hatte, war Angelina fast so streng, sachlich und rational vorgegangen wie ein militärischer Ausbilder. Er war nicht immer davon überzeugt, dass dies die beste Methode war, ein kleines Kind aufzuziehen. Doch wie er hatte feststellen müssen, hatte Penny sich inzwischen an Berechenbarkeit und einen festen Zeitplan gewöhnt.
In den vergangenen eineinhalb Jahren hatten sie zwei verschiedene Kindermädchen gehabt, und mit keinem von beiden hatte es funktioniert. Die erste der Frauen kündigte, weil ihre in Kalifornien lebende Tochter ein Baby bekommen hatte und ihre Hilfe brauchte. Die zweite ging, weil ihr Freund ihr nach zehn Jahren endlich einen Heiratsantrag gemacht hatte und sie zusammen nach Wisconsin zogen. Eins hatten sie gemeinsam gehabt: Beide Frauen waren streng und rational gewesen – genaue Einhaltung der Zeiten zum Schlafengehen undAufstehen, ausgewogene Mahlzeiten und strikte Vorstellungen, was den Schulunterricht anging.
Wenn er jetzt eine junge Frau einstellte, die in erster Linie wollte, dass ihr Schützling viel Spaß hatte, und die auf Routine weniger Wert legte – dann würde das Penny womöglich völlig durcheinanderbringen.
Und falls die Kleine im Gegenteil unter Laurels Betreuung aufblühte, was würde dann passieren, wenn das Kindermädchen sie wieder verließ? Eine so junge und schöne Frau wie Laurel würde sicher nicht die besten Jahre ihres Lebens zurückgezogen in einem Mausoleum wie Gray Manor verbringen. Selbst wenn sie dies vorhaben sollte: Irgendwann würde ein junger Mann ihr über den Weg laufen und sie vom Fleck weg heiraten.
Nein, dachte er. Eine Frau mittleren Alters oder älter, die entweder verheiratet war oder ledig bleiben wollte, war die bessere Wahl. Denn bei so einer Person war die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher, dass sie die zwölf Jahre bleiben würde, bis Penny volljährig war.
Mit dem letzten Kindermädchen hatte Charles in dieser Hinsicht zwar eine böse Überraschung erlebt, doch er hatte ja auch ihren langjährigen Freund nicht mit in seine Überlegungen einbezogen. Deshalb wollte er künftig noch besser darauf achten, über alle wichtigen Informationen zu verfügen.
Und auf keinen Fall würde er noch einmal Myra mit der Aufgabe betrauen, ein Kindermädchen zu suchen und einzustellen. Er hatte ihre Absichten durchschaut. Aber auch wenn sie es sich wünschte: Myra Daniels war keine Heiratsvermittlerin – und Laurel Midland ganz sicher keine Heiratskandidatin für ihn.
„Ich weiß, wer du wirklich bist.“
Erschrocken fuhr Laurel aus dem Schlaf hoch. Hatte sie nur geträumt, oder war man ihr wirklich schon auf die Spur gekommen?
Sie drehte sich auf die Seite und sah im Dunkeln Penny neben ihrem Bett stehen.
„Penny?“
Das Mädchen antwortete nicht.
Laurel setzte sich auf und tastete nach dem Lichtschalter. Alssie die Lampe einschaltete, wurde sie von dem grellen Licht geblendet.
„Penny, was ist denn los? Hattest du einen Albtraum, Darling?“
Penny blinzelte und sah Laurel verwirrt an. „Was?“ Sie schien Angst zu haben.
„Bist du zu mir gekommen, weil du schlecht geträumt hast?“, fragte Laurel sanft und berührte die Schulter des Mädchens.
Penny blickte sich um. „Ich … ich …“ Sie wirkte völlig verstört. „Ich weiß nicht. Ich möchte in mein Zimmer zurück!“
Ich weiß, wer du wirklich bist. Penny musste geträumt und im Schlaf gesprochen haben. Es hatte nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich war es albern, sich darüber so viele Gedanken zu machen. Selbst wenn die Kleine das wirklich gesagt hatte, konnte sie nichts Wichtiges damit gemeint haben. Es waren einfach nur die Worte eines schlafwandelnden Kindes gewesen. Dennoch war Laurel beunruhigt.
„Penny“, sagte sie sanft. „Weißt du noch, was du gesagt hast, als du zu mir ins Zimmer gekommen bist?“
Penny nickte schläfrig.
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