JULIA EXTRA Band 0286
Fotoshooting langweile.“ Warum stellte er so banale Fragen, wenn die ganze Welt um sie herum in tausend kleine Scherben zersplitterte? „Und Sie sind George Wentworth“, sagte sie zu dem Mann, der neben ihrer Mutter auf dem Sofa saß.
Wer waren diese Leute? Falsch, sie wusste, wer sie waren, aber in welcher Beziehung standen sie zu ihr? Was taten sie in ihrem Zuhause? Und warum sprachen sie mit ihrer Mutter?
Der ältere Mann erhob sich. „Ich bin …“ Er räusperte sich. „Ja, ich bin George Wentworth.“
Helen setzte sich auf, wischte die Tränen aus den Augen und streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. „Komm her, Amber. Ich muss dir etwas sagen.“
Langsam ging Amber auf ihre Mutter zu. Mr. Wentworth trat einen Schritt zurück und nahm in dem Sessel neben dem Sofa Platz.
Die Frau, die ihr selbst so ähnlich sah und von der ihre Mutter behauptete, sie sei ihre Schwester, hielt ihren Kopf auf genau dieselbe Weise wie George Wentworth. Ob die beiden miteinander verwandt waren?
Amber schaute die Fremde an. „Du siehst aus wie ich“, murmelte sie.
„Fast.“ Ein kleines Lächeln und ein Schulterzucken begleiteten das Wort.
Amber dachte darüber nach. Natürlich war sie, vermutlich besser als alle anderen, in der Lage, die vielen kleinen Unterschiede zu bemerken.
„Dein Haar ist dunkler. Ohne Strähnchen.“
„Ja.“
„Dafür ein bisschen kürzer.“
„Und ich zupfe mir nicht die Augenbrauen, wiege ungefähr fünf Kilo mehr als du, kleide mich nicht der Mode entsprechend und hasse Joggen“, entgegnete die Frau, womit sie auf Ambers Lieblingssport anspielte. „Aber ich liebe alte Filme, wir tragen dieselbe Schuhgröße, und ich mag Silber lieber als Gold.“
Ein gequälter Laut entrang sich Helens Kehle, der die Gefühle in ihrem Inneren widerspiegelte. Amber hingegen besaß jahrelange Erfahrung vor der Kamera. Sie wusste, wie sie es anstellen musste, um nichts von ihren Gefühlen nach außen dringen zu lassen.
Außerdem war sie stark genug, um, was auch immer hier geschah, zu überstehen. Gleichzeitig überkam sie die Ahnung, dass ihre sichere Welt, die sie so gut kannte und liebte, kurz davor stand, auseinanderzubrechen.
Sie ergriff die Hand ihrer Mutter. „Was ist hier los, Mom?“
„Bitte, du darfst mich nicht hassen, Amber. Ich verdiene es, ich weiß, aber ich könnte es nicht ertragen.“
„Ich könnte dich niemals hassen“, schwor Amber.
„Bevor du ins Wohnzimmer gekommen bist“, wandte Helen sich an ihre Tochter, „hat Mr. Wentworth mir eine Frage gestellt. Er wollte wissen …“ Sie hielt inne, schien sich zu sammeln und fuhr dann fort. „Er wollte wissen, warum ich seine Tochter gestohlen habe.“
Da zuckte Amber zusammen, als hätte man ihr einen tödlichen Schlag versetzt. „Was?“
Und dann erzählte ihre Mutter eine Geschichte, in der alles auf grauenhafte Weise einen Sinn ergab. Amber erfuhr, dass Helen ihr Baby bei demselben Unfall verloren hatte, der auch ihren Ehemann das Leben gekostet hatte. Danach stürzte sie in eine Depression und kam in das Krankenhaus, in dem die Frau, die Amber und ihrer Schwester das Leben schenkte, kurze Zeit später starb.
Irgendetwas in Helen war damals zerbrochen. Sie entführte eines der Babys in dem Glauben, sie wäre die echte Mutter. Mr. Wentworth nickte, als wüsste er genau, wie etwas so Schreckliches hatte passieren können. Amber erschien er wie der unglaublichste Mann, den sie je getroffen hatte. Er schrie nicht, stieß keine Drohungen aus, sondern sah ihre Mutter nur mitfühlend an.
„Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, mit dem Baby aus dem Krankenhaus zu gelangen. Ich erinnere mich nicht. Zu Hause lagen noch die Babysachen, die ich für meine Amber vorbereitet hatte.“ Die Stimme ihrer Mutter brach. „Ich liebe dich so sehr.“
Tröstend schloss Amber ihre Mutter in die Arme. „Es ist alles gut, Mom.“
„Nichts ist gut“, erwiderte Helen kopfschüttelnd. „Ich habe in einer Fantasiewelt gelebt, an die ich volle fünf Jahre geglaubt habe.“
„Aber dann hat dich irgendetwas in die Realität zurückkehren lassen“, sagte Amber ganz sanft.
„In einer Zeitschrift sah ich einen Artikel über George Wentworth.“ Sie blickte in die Runde. „Darin wurde das Verschwinden seiner Tochter erwähnt. Und auf einmal wusste ich es. Immer noch konnte ich mich nicht daran erinnern, Amber genommen zu haben. Dafür wusste ich wieder, dass mein Baby gestorben war und die Tochter, die ich mehr als mein Leben
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