Julia Extra Band 0292
schaltete ihn an und legte mit zitternden Fingern die erste Kassette in den Videorekorder ein. Es waren Amateuraufnahmen, alle von Hand beschriftet.
Kurz darauf saß sie in ihrem schlichten Baumwollnachthemd im Bett, ein dickes Kissen im Rücken, und das noch feuchte Haar fiel in Locken auf ihre Schultern herab. Mit tiefen Seufzern, Gelächter und Tränen verfolgte und kommentierte sie jeden wichtigen Moment im Leben ihres Sohnes, das sich vor ihren Augen abspulte.
Giorgio, wie er mit plumpen Händchen das Papier von seinem ersten Weihnachtsgeschenk zerknitterte. Giorgio, der auf wackeligen Beinchen seine ersten Schritte machte, und später ritt er auf seinem ersten Pony, während ihm sein zio die korrekte Sitzhaltung erläuterte.
In einem anderen Video thronte er hinter dem Steuer von Romanos rotem Sportwagen und tat so, als fahre er ein Rennen. Sein rundes Gesicht leuchtete vor Stolz und Vergnügen, und er wirkte dabei wie eine jüngere Kopie des Mannes, der ihn filmte.
Libby spürte einen Stich im Herzen. Ihr Sohn liebte seinen zio Romano. Und warum auch nicht? Er war immer für ihn da gewesen … vom Tag seiner Geburt an.
Die Nacht, in der Libby ihren Sohn zur Welt gebracht hatte, war lang und qualvoll gewesen. Und sie hatte sie ganz allein durchstehen müssen. Voller Warten, Bangen, Hoffen und Sehnsucht nach Lucas Unterstützung.
Da sie ihn den ganzen Tag über nicht auf seinem Handy erreichen konnte, war sie gezwungen gewesen, seine Mutter anzurufen. Doch selbst als die lange, schmerzhafte und komplizierte Geburt endlich überstanden war, gab es keine Nachricht von ihm.
Libby erinnerte sich noch gut an den beseligenden Moment, als die Schwester den Kopf durch die Tür steckte und sie breit lächelnd informierte, der frischgebackene Vater sei endlich eingetroffen.
Als Libby statt Luca Romano hinter der Schwester auftauchen sah, stürzten sie die herbe Enttäuschung und ein seltsamer Adrenalinkick, zusammen mit ihren ohnehin wirren Schwangerschaftshormonen, in ein wahres Gefühlschaos.
„Wa… was tust du hier?“, hatte sie gestammelt.
„Du hast immerhin gerade die nächste Generation der Vincenzos zur Welt gebrachte“, lautete die trockene Erklärung ihres Schwagers, der in seinen engen Jeans zum weißen T-Shirt und schwarzer Lederjacke unverschämt attraktiv aussah. „Ich dachte, wenigstens ein Mitglied unserer Familie sollte dieses Ereignis würdigen.“
„Wo … wo ist Luca?“
Erst verspätet fielen ihr seine Anspannung und die dunklen Schatten unter den Augen auf.
„Luca … er konnte nicht kommen.“
Ungläubig runzelte sie Stirn. „Warum nicht?“
Was für eine Entschuldigung konnte es für einen Ehemann und frischgebackenen Vater geben, nicht so schnell wie möglich an die Seite seiner Frau und seines neugeborenen Sohnes zu eilen?
„Er ist … außer Reichweite.“
„Außer Reichweite? Wo denn? Auf einem anderen Planeten?“, fragte sie bitter. „Wo hast du ihn im Dienst der heiligen Familienfirma hingeschickt?“
„ Ich habe ihn nirgendwohin geschickt.“
Also hatte sie es seinem Vater zu verdanken, dass sie in den schwersten und schönsten Stunden ihres Lebens ganz auf sich allein gestellt war!
„Wie vorausschauend!“ Nur mit Mühe gelang es Libby, die Tränen zurückzuhalten. Maurizio Vincenzo schreckte wirklich vor nichts zurück, um Luca von ihr fernzuhalten!
„Ich würde es eher … einen unglücklichen Umstand nennen.“
Libby hatte das Gefühl, er wähle seine Worte sehr vorsichtig. Vielleicht um sich nicht doch noch selbst zu belasten?
„Aber es ist uns schließlich gelungen, ihn zu erreichen, und inzwischen dürfte er auf dem Weg hierher sein.“
„Und bis dahin willst du in seine Rolle schlüpfen“, murmelte Libby missmutig.
„Wohl kaum …“ Der verächtliche Ausdruck auf seinem Gesicht machte Libby erst bewusst, dass man ihre so leicht hingeworfenen Worte auch gründlich missverstehen konnte, und zu ihrem Entsetzen spürte sie heiße Röte in ihre Wangen steigen. „Dennoch hielt ich es für angemessen, dir dies hier mitzubringen.“
Niemals würde sie die Überraschung oder den Knoten in ihrem Hals vergessen, die sie beim Anblick des riesigen Straußes dunkelroter Rosen verspürt hatte, die Lucas Bruder ihr überreichte. Oder seinen eindringlichen Blick, der ihren festhielt, bis ein leiser glucksender Laut aus dem Bettchen neben ihrem die Magie des Augenblicks durchbrach.
„Darf ich?“
Sie nickte. „Du bist sein Onkel.“
Romano ging um
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