Julia Extra Band 348
Hand sinken und reckte trotzig das Kinn. „Bis zu meinem achtzehnten Geburtstag hat er mich zu Hause eingesperrt. Dann war ich volljährig und konnte tun, was ich wollte. Er redete sich damit heraus, dass er mich so sehr liebte. Ich weiß zwar, dass er das getan hat, aber es war schlimm, die Gefangene der Ängste eines anderen Menschen zu sein.“
Plötzlich verstand er ihr Verhalten besser. Ihre Zügellosigkeit, ihre Rebellion, ihre Weigerung, sich von anderen vorschreiben zu lassen, was sie tun sollte. Sie hatte einfach Angst, dass ihr Leben außer Kontrolle geriet.
„Das ist nicht das Gleiche“, erklärte er sanft. „Dein Leben ist ernsthaft in Gefahr, vor allem, wenn du jetzt nach Aliz zurückkehrst.“
Sie strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht geweht war, und sah ihn zweifelnd an.
„Ich weiß“, sagte sie endlich. „Ich war wütend auf dich und bin es noch, weil du mich, ohne zu fragen, hergebracht hast. Aber ich weiß auch, dass ich dir freie Hand gelassen habe, als ich dich zu meinem Schutz eingestellt habe.“
„Deine Sicherheit steht für mich an erster Stelle. Ganz gleich, ob du deswegen wütend auf mich bist oder mich dafür hasst.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hasse dich nicht, obwohl das vieles leichter machen würde. Du hast mich in Sicherheit gebracht, als ich entschlossen war, mich und meine Leute einer Gefahr auszusetzen.“
„Und ich würde es jederzeit wieder tun.“
„Ich weiß.“ Sie starrte auf den Sand zu ihren Füßen. Zu gern hätte er sie an sich gezogen und sie tröstend aufs Haar geküsst.
Er fühlte sich nutzlos. Zwar hatte er sie in Sicherheit gebracht, doch den Schuldigen, der ihr die grausame Puppe geschickt hatte, nicht gefunden. Wie lange würde Veronica noch sicher sein? Und was wäre, wenn sie erst einmal wieder Präsidentin von Aliz sein würde? Dann würde sie seine Hilfe nicht mehr brauchen und er sie nie wiedersehen.
Sie blickte zu ihm auf, Tränen glänzten ihr in den Augen. „Hätten wir uns doch früher und unter anderen Umständen kennengelernt, dann würden wir jetzt vielleicht nichts bereuen.“
Unwillkürlich hob er eine Hand und ergriff eine ihrer Haarsträhnen. Er liebte das seidige Gefühl, die herrliche Farbe.
„Zu leben heißt eben bereuen“, sagte er. Die Vorstellung, sie nie wieder berühren zu dürfen, war unerträglich.
„Was hätte das Leben für einen Sinn, wenn wir nicht aus unseren Fehlern lernen würden?“, erwiderte sie. Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu, stellte sich auf Zehenspitzen und zog seinen Kopf zu sich heran.
Als ihre Lippen seinen Mund streiften, wehrte er sich nicht. Die Berührung war unglaublich zart – und doch verführerisch. Zu gern hätte er sie an sich gepresst und mit seiner Zunge ihren Mund erobert.
Doch dann war der Moment vorbei. „Es ist zu spät“, flüsterte sie. „Du hast es selbst gesagt – du bist nicht der Richtige für mich.“
Sie löste sich von ihm, trat einen Schritt zurück und wandte sich zum Gehen.
Er schaute ihr hinterher, bis sie den Pfad, der zum Haus führte, erreicht hatte und aus seinem Blickfeld verschwand. Trauer stieg in ihm auf. Er hatte von ihr verlangt, dass sie sich der Wahrheit stellte. Endlich hatte sie begriffen. Und er hätte am liebsten aufgeheult.
Veronica lief zum Haus zurück. Oben angekommen rannte sie in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Nun konnte sie die aufgestauten Tränen nicht länger zurückhalten.
Sie hatte ihn angelogen. Als sie ihm gesagt hatte, dass er nicht der Richtige sei, hatte sie ihn angelogen. Auch wenn sie es sich bislang nicht hatte eingestehen wollen, war er der Mann, den ihr Herz begehrte. Das war ihr heute Abend klar geworden. Als sie an den Strand gegangen war, hatte sie vor der Erkenntnis davonlaufen wollen.
Warum nur war sie so dumm gewesen und hatte sich in ihn verliebt? Seine Art beeindruckte sie. Er war zärtlich, verständnisvoll, zuverlässig. In seiner Nähe fühlte sie sich sicher. Fast hatte sie den Eindruck, er würde sie ebenfalls lieben. Dabei wusste sie genau, dass dem nicht so war.
Außerdem war er wild und nicht zu zähmen. Obwohl sie sich darüber im Klaren gewesen war, hatte sie den Kopf in den Rachen des Tigers gesteckt. Wenn er sie nun fraß und wieder ausspuckte, war es allein ihre Schuld. Nun stand sie in ihrem Zimmer und weinte bitterlich.
Als Raj in ihr Leben getreten war, hatte sie sich gerade von den schrecklichen Erlebnissen der letzten Monate ein wenig erholt
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