Junger, Sebastian
voraussagen lässt, wie sie
ausgehen. Das heißt, jede Miliz aus zusammengewürfeltem Gesindel, wie klein und
wie schlecht ausgerüstet auch immer, könnte möglicherweise eine überlegene
Streitkraft besiegen, wenn sie gut genug kämpft. Der Kampf beginnt als ein
einigermaßen organisiertes Rechenexempel, aber degeneriert schnell zu einer Art
gewalttätigen Farce, und die Zufälligkeit dieser Farce kann zu seltsamen
Resultaten führen. »Jede Aktion führt zu einer Gegenaktion vonseiten des
Feindes«, schrieb der amerikanische Korrespondent Jack Beiden über
Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg. (Beidens Beobachtungen waren so treffend,
dass er in The American Soldier zitiert
wurde.) »Die Tausende von verzahnten Aktionen bringen Millionen von kleinen Reibungen
hervor, Missgeschicken und Zufällen, aus denen der alles umfassende Nebel der
Ungewissheit aufsteigt.«
Der Nebel
des Kampfs verschleiert das Schicksal - verschleiert, wann und wo man sterben
könnte -, und aus dieser Ungewissheit erwächst die extreme Verbindung zwischen
den Männern. Dieser Pakt ist die Grunderfahrung aus dem bewaffneten Kampf und
das Einzige, worauf du absolut zählen kannst. Die Army mag dich verscheißern
und deine Freundin mag dich sitzen lassen und der Feind mag dich vielleicht
töten, aber die gemeinsame Verpflichtung, das Leben des anderen zu schützen,
ist unverbrüchlich und wird mit der Zeit nur noch verlässlicher. Die
Bereitwilligkeit, für einen anderen Menschen zu sterben, ist eine Form von
Liebe, wie sie nicht einmal Religionen wecken können, und sie zu erfahren
verändert einen Menschen zutiefst. Die Armeesoziologen mit ihren Klemmbrettern
und ihren Fragen und ihren endlosen Metaanalysen lernten langsam zu verstehen,
dass Mut Liebe war. Im Krieg konnte das eine
nicht ohne das andere existieren, und in gewissem Sinne waren sie nur
verschiedene Weisen, ein und dasselbe zu sagen. Laut Auswertung der Fragebögen
war die Hauptmotivation im bewaffneten Kampf (anders als »die Aufgabe zu Ende
bringen« - was bedeutet hätte, dass alle heimkehren konnten) »die Solidarität
mit der Gruppe«. Das überwog als Motivation bei Weitem den Gedanken der
Selbsterhaltung oder des Idealismus. Der Army Research Branch erwähnt Fälle,
in denen verwundete Männer sich unerlaubt entfernt hatten, um schneller zu
ihrer Einheit zurückzukommen, als die Army sie hingebracht hätte. Ein Zivilist
mag das für ein Zeichen von Mut halten, aber die Soldaten wussten es besser.
Für sie war es nur ein Akt der Bruderschaft, und wahrscheinlich hätten sie dazu
nicht viel mehr zu sagen gehabt als: »Willkommen.«
Loyalität
gegenüber der Gruppe trieb die Männer in den bewaffneten Kampf - und
gelegentlich auch in den Tod -, aber die Gruppe bot auch die einzige
psychologische Rückzugsmöglichkeit aus dem Horror dessen, was sich abspielte.
Es war womöglich beruhigender, mit Männern, denen man vertraute, unter Beschuss
zu liegen, als in der Etappe mit Fremden auszuharren, die vom Krieg so gut wie
gar nichts verstanden. Fast scheint es so, als habe die Aufnahme in die Gruppe
eine berauschende Wirkung, die alle Gefahren, denen die Gruppe ausgesetzt
war, mehr als wettmachte. Eine Mitte der 1950er durchgeführte Studie stellte
fest, dass der bevorstehende Sprung aus einem Flugzeug bei nur lose miteinander
verbundenen Gruppen von Fallschirmspringern extreme ängstliche Anspannung
hervorrief, eng miteinander verbundene Männer hingegen in erster Linie besorgt
waren, den Anforderungen der Gruppe gerecht zu werden. Wie man herausfand,
waren Männer in der Lage, größere Schmerzen zu ertragen - in diesem Fall
Elektroschocks -, wenn sie zu einer festgefügten Gruppe gehörten und nicht auf
sich allein gestellt waren.
Anfang der
1990er formulierte der englische Anthropologe Robin Dunbar die Theorie, dass
die maximale Größe einer Gruppe von Primaten von deren Gehirngröße -
insbesondere der Größe des Neokortex - bestimmt wird. Je größer der Neokortex,
argumentierte er, desto größer die Anzahl von Individuen, mit denen man
persönliche Beziehungen führen kann. Dunbar verglich Gehirne von Primaten mit
denen von Menschen und benutzte das Differenzial, um die ideale Größe für eine
Gruppe von Menschen vorherzusagen. Die Zahl, auf die er kam, war 148,8
Menschen. Aufgerundet zu 150 wurde sie bekannt als die Dunbar-Zahl und tauchte
auf einmal überall auf. Eine Auswertung ethnografischer Daten kam zu dem
Ergebnis, dass Jäger-und-Sammler-Völker weltweit in
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