Junger, Sebastian
Division dasselbe bei den deutschen. Eines
der erstaunlichsten Phänomene der letzten Kriegsphase war nicht, dass die
deutsche Armee zusammenbrach - gegen Ende war das nur noch eine simple
Rechenaufgabe -, sondern dass sie so lange durchhielt, wie sie es tat. Viele
deutsche Einheiten, die vom Rest ihrer Armee total abgeschnitten waren, wehrten
sich nach wie vor gegen die Aussicht einer sicheren Niederlage. Nach dem Krieg
interviewten die beiden ehemaligen amerikanischen Nachrichtenoffiziere
Tausende von deutschen Kriegsgefangenen, um herauszufinden, was sie angesichts
so schlechter Aussichten motiviert hatte. Ihre Abhandlung »Cohesion and
Disintegration in the Wehrmacht in World War II« (»Kohäsion und Desintegration
bei der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg«) wurde ein Standardwerk zu der Frage,
warum Männer kämpfen.
In
Anbetracht des extremen Nationalismus zu NS-Zeiten hätte man erwarten können,
dass territoriale Ambitionen und das Gefühl rassischer Überlegenheit die
meisten Männer an der Front motivierte. Tatsächlich jedoch halfen diese Vorstellungen
nur den Männern, die bereits Teil einer kohäsiven Einheit waren, für alle
anderen stellten diese imposanten Prinzipien überhaupt keine Motivation dar.
Für einen Soldaten ist es notwendig, dass seine grundlegenden physischen
Bedürfnisse befriedigt werden und er von anderen geschätzt und geliebt wird.
Wenn das von der Gruppe erfüllt wird, braucht der Soldat letztlich keine
andere logische Zielsetzung zur Fortführung des Kampfes als die Verteidigung
eben dieser Gruppe. Die Propaganda der Alliierten bezüglich des moralischen
Unrechts der NS-Diktatur hatte nur eine sehr geringe Wirkung auf diese Männer,
denn letztlich kämpften sie sowieso nicht für diese Regierung. Als die
deutschen Linien zusammenbrachen und die Wehrmacht ins Wanken geriet, wich das
Interesse am Kämpfen allmählich dem am reinen physischen Überleben. In dieser
Situation fanden alliierte Propagandakampagnen, die deutschen Deserteuren
Nahrung, Unterkunft und Sicherheit versprachen, langsam Resonanz.
Aber Shils
und Janowitz stellten fest, dass die Deserteure verdrossene Einzelgänger waren,
die nie richtig in ihre Einheit gepasst hatten. Es waren Männer, denen es
typischerweise schwerfiel, Zuneigung zu zeigen oder anzunehmen, und die in
ihrer Vergangenheit immer wieder Schwierigkeiten mit Freunden und der Familie
daheim gehabt hatten. Eine signifikante Anzahl war auch vorbestraft. Die
Mehrzahl aller anderen kämpfte oder starb in der Einheit oder ergab sich in der
Einheit. Fast niemand handelte eigenständig, um dem Schicksal zu entgehen, das
auf die Gruppe zukam. Als ich Hijar fragte, was es bedeuten würde, »überrannt«
zu werden, sagte er: »Nach der Definition für einen tapferen Mann hieße das,
bis in den Tod zu kämpfen.« Das versuchte letztlich die gesamte deutsche Armee
zu tun, als die Westfront im Frühling 1945 zusammenbrach.
Die
extremste Art, den Einsatz für die Gruppe zu beweisen, besteht darin, sich auf
eine Handgranate zu werfen, um die Männer um sich herum zu retten. Das ist Mut
in seiner reinsten Form, eine unmittelbare Entscheidung, die den Tod des Helden
praktisch garantiert, aber auch mit hoher Wahrscheinlichkeit allen anderen das
Leben rettet. (Bei den meisten Heldentaten besteht zumindest eine minimale
Überlebenschance - und eine sehr große Chance des Scheiterns.) Ich möchte
bezweifeln, dass Giunta an seine eigene Sicherheit dachte, als er ins heftige
Feuer lief, um Brennan davor zu bewahren, vom Feind verschleppt zu werden, aber
irgendwo im Hinterkopf mag er vielleicht doch gedacht haben, dass ihm eine
Überlebenschance blieb. Das wäre bei einer Handgranate nicht möglich. Sich auf
eine Handgranate zu werfen ist bewusster Selbstmord, und diese Handlung nimmt
als solche einen einzigartigen Platz in derTaxonomie des Mutes ein.
Besonders
schwer zu verstehen ist diese Handlung aus evolutionärer Sicht. Die Triebfeder
menschlicher Evolution ist die natürliche Selektion, was bedeutet, dass die
Gene von Individuen, die sterben, bevor sie die Möglichkeit zur Reproduktion
gehabt haben, tendenziell aus einer Population ausgesiebt werden. Ein junger
Mann, der sich auf eine Handgranate wirft, überlässt gewissermaßen den Männern,
die er rettet, den Sieg im genetischen Wettbewerb: Sie werden in Zukunft Kinder
haben, er jedoch nicht. Daher ist nur schwer vorstellbar, wie ein Gen für Mut
oder Altruismus durch die Generationen hätte weitervererbt werden
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