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Junger, Sebastian

Junger, Sebastian

Titel: Junger, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: War
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kollektives moralisches Fehlverhalten, das mich raffiniert
dazu verführt hat - uns alle verführt hat -, allein schon seiner Dramatik zu
verfallen. Junge Männer in ihren grausigen neuen Rollen mit ihrer grausigen
neuen Maschinerie, angetreten gegen gleichermaßen starke junge Männer auf der
anderen Seite des Tals, alle mit dem Ziel, einander sozusagen gegenseitig aus
dem Spiel zu nehmen, bis wieder Ersatz kommt. Dann geht alles von vorn los.
Derart viel menschliche Energie ist darin investiert - so viel Mut, so viel
Ehre, so viel Blut -, dass leicht ein Jahr vergehen könnte, bis man sich die
Frage stellt, ob all das überhaupt hätte geschehen müssen. Und dann erwischt
man sich bei dem Gedanken, dass doch eigentlich nichts so viele
Menschen dazu bringen könnte, so hart für
etwas zu arbeiten, das nicht nötig ist - oder?
    An diesem
Abend spule ich das Videotape von der Explosion zurück und versuche, es mir
anzusehen. Mein Puls spielt in den Augenblicken, bevor wir getroffen werden,
derart verrückt, dass ich beinahe den Blick abwenden muss. Ich kann immer nur
an die ungefähr drei Meter denken, die dafür verantwortlich waren, dass die
Bombe unter dem Motorblock detonierte und nicht unter uns. In dieser Nacht
habe ich einen Traum. Ich schaue einer gigantischen Schlacht zwischen meinem
älteren Bruder und den Monstern der Unterwelt zu, und mein Bruder tötet eins
nach dem anderen mit seiner riesigen Schrotflinte. Die Monster sind wie aus
einem Zeichentrickfilm und mörderisch, und es ist egal, wie viele er tötet,
denn der Vorrat an ihnen ist unerschöpflich.
    Irgendwann
wird ihm einfach die Munition ausgehen, spüre ich. Irgendwann werden die
Monster siegen.
     
    -6-
     
    Ich vergesse das Tal nicht, ich bleibe, und nach einigen Tagen
ist der Krieg wieder Normalzustand. Wir gehen auf Patrouille, und ich
konzentriere mich auf die Grundregel, dass ein Fuß vor den anderen gesetzt
wird. Wir geraten in einem Hinterhalt, und ich bin nur daran interessiert,
welche Deckung wir haben. Es ist alles ganz simpel und direkt, und zu ungefähr
diesem Zeitpunkt ergibt das Töten allmählich einen Sinn für mich. Es ist verlockend,
es als politischen Akt zu sehen, weil sich die Auswirkungen auf dieser Bühne
abspielen, aber das trifft die Sache nicht: Ein Mann hinter einem Felsen
berührte mit zwei Drähten eine Batterie und versuchte mich zu töten - uns zu töten.
Es gibt andere Möglichkeiten, seine Tat zu verstehen, aber keine davon setzt
die krude Tatsache außer Kraft, dass dieser Mann alles auslöschen wollte, was
ich in meinem Leben getan hatte oder vielleicht noch tun wollte. Das kam mir
boshaft vor und auf mich persönlich gemünzt, anders als im bewaffneten Kampf.
Der Kampf lässt einem theoretisch noch die Chance, gut zu reagieren und zu
überleben; Bomben lassen nichts zu. Der Dampfkochtopf wurde wahrscheinlich in
Kandigal gekauft, der Marktstadt, durch die wir vor einer Stunde gekommen
sind. Der Bombenbauer hat sich in der Schlucht ein Lagerfeuer gerichtet, um
sich über Nacht warm zu halten, während er auf uns wartete. Wir konnten seine
Fußspuren im Sand erkennen. Das Verhältnis zwischen ihm und mir konnte nicht
eindeutiger sein, und hätte ich die Chance bekommen, ihn zu töten, bevor er die
Drähte in Kontakt brachte, hätte ich es gewiss getan. Als Zivilist möchte man
nicht, dass sich so ein Gedanke im Kopf festsetzt. Es ist auch kein Gedanke,
der dort still verharrt und Sicherheit verleiht.
    Ich kam
über die drei Meter nicht hinweg. Ich dachte immer wieder an Murphree und sah
hinunter auf meine Beine. Die Vorstellung, dass so viel von so wenig bestimmt
werden konnte, war einigermaßen unerträglich und ließ den Ausblick auf ein
ganzes Leben zum Schrecken werden. Sie machte den Gang in die Kantine so
furchterregend wie eine Nachtpatrouille nach Karingal. (Den amerikanischen
Vertragsarbeiter, der im KOP angeschossen wurde, traf das Geschoss nur deswegen
ins Bein statt in den Kopf, weil er sich an dem Tag auf seiner Pritsche anders
hingelegt hatte.) Unter diesen Umständen konnte man die Nerven nur bewahren,
wenn man die ungeheure Feuerkraft bestaunte, die den Amerikanern zur Verfügung
stand, und hoffte, dass sich die Gleichung dadurch irgendwie änderte. Sie haben
zum Beispiel eine riesige, von der Schulter abgefeuerte Rakete, die Javelin
heißt und ins Fenster eines mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Wagens in
einer Meile Entfernung gesteuert werden kann. Jede Javelin kostet 80 000
Dollar, und die

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