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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Hitze und Sonne im Überfluss brachte. Daran, dass das Obst an Dolasillas Bäumen die Äste schwer machte, merkte Amicia auf beklemmende Weise, wie viel Zeit verstrichen war. Dolasilla gab ihr Kiepe und Pflücknetz, und gemeinsam ernteten sie die duftenden Äpfel und Zwetschgen, kochten Sirup und buken goldene Pasteten, doch statt sich an der Fülle zu freuen, wie sie es in Quarr getan hatte, fragte sich Amicia, was Matthew zu essen bekam. Sooft sie hinüber zu den geweißelten Türmen der Burg sah, fiel ihr der Wachmann wieder ein, der ihn geschlagen und bedroht hatte. War Matthew verhaftet worden für etwas, das sie nicht verstand? Warum nur hatte sie ihn nicht gefragt, weshalb die Männer ihn den Enkel und Neffen von Verrätern genannt hatten?
    In der Geschichte seiner Familie gab es einen schwarzen Flecken, so viel stand fest. Amicia kannte solche Fälle aus Quarr – nicht selten sandte man die Söhne von Vätern, die in Ungnade gefallen waren, in Klöster, weil ihnen keine weltliche Laufbahn mehr offenstand. Ging es Matthew ähnlich? Und würde man ihn für etwas bestrafen, das nicht er, sondern ein Verwandter getan hatte? Würde man ihm Fehler ankreiden, die man anderen vergeben hätte, nur weil er von den falschen Eltern stammte?
    Sicherlich, Matthew war jähzornig, unbeherrscht und voller Trotz. Wenn er sich gereizt fühlte, konnte er sich betragen wie der schlimmste Flegel und sich um Kopf und Kragen bringen. Der Wunsch, bei ihm zu sein und ihn zu beruhigen, wie er den weißen Bären hatte beruhigen wollen, wurde dennoch übermächtig. Amicia vermochte sich nicht länger auf eine Tätigkeit zu konzentrieren. Sie ließ Fruchtsuppe anbrennen und verdarb einen Topf zum Mälzen gewässerter Gerste, indem sie ihn stehen ließ, bis das gekeimte Korn Schimmel ansetzte.
    Statt sie zu schelten, sagte Dolasilla: »Du bist ein so geschicktes Mädchen, wenn du mit dem Kopf bei einer Sache bleibst. Wohin ist dein Kopf entflogen, Amsel?« Sie hatte gehört, wie Amicia das Lied des Vogels nachgeahmt hatte, und nannte sie seither bei diesem Namen.
    »Ich weiß es selbst nicht«, behauptete Amicia matt.
    »Doch, du weißt es. Wenn ein schöner Mann lange fortbleibt und ein schönes Mädchen von Tag zu Tag trauriger wird, dann kennt den Grund dafür mein dümmstes Huhn.«
    Amicia musste lachen. »Ich mache mir Sorgen.«
    »Ich glaube, das brauchst du nicht«, erwiderte Dolasilla. »Matthews Geschäfte werden sich eben hinziehen. Seit wir einen König haben, der ohne Ende Gesetze erlässt, dauert alles immer länger.«
    »Weißt du über Matthews Geschäfte Bescheid?«, fragte Amicia mit einer Spur Hoffnung.
    Dolasilla winkte ab. »So was besprechen doch Herren nicht mit uns.«
    »Aber ihr kennt ihn schon lange, du und dein Mann?«
    Die Alpenländerin strahlte. »Seit er als Knirps von sieben Jahren mit seinem Onkel hier war. Er war dem Onkel wie aus dem Gesicht geschnitten, hatte noch keine schwarzen Wolken um die Stirn, und die beiden gaben ein Gespann ab, dem jedes weibliche Wesen schmachtende Blicke hinterdreinwarf.«
    Schwarze Wolken um die Stirn. Treffender hätte Amicia Matthew nicht beschreiben können. »Lebt der Onkel auch hier in London?«, fragte sie. War das etwa der Verräter, an den der Wachmann gedacht hatte? War es möglich, dass Matthew ihn getroffen hatte?
    »Er lebt überhaupt nicht mehr«, antwortete Dolasilla betrübt. »Kurz nachdem er noch einmal hergekommen ist und uns für Wochen sein kleines Ebenbild hiergelassen hat, ist er gestorben. Bei einem Jagdunfall. Vom Reiten und Jagen sprach er immer, als sei’s das Himmelreich. Vielleicht war es besser so und hat ihm einen Tod in Schande erspart. Er war ja so leichtsinnig, wie er schön war, und ließ sich auf Dinge ein, die schon andere den Hals gekostet haben.«
    Amicia presste die Hand auf ihr Herz. Es fühlte sich an, als hielte sie ein vor Panik zappelndes Tier. Sie bemerkte nicht einmal, dass Dolasilla vor sie trat und ihr den Rührlöffel fortnahm.
    »Jetzt habe ich dir noch mehr Angst gemacht, was? Aber das alles betraf doch den Onkel, nicht Matthew. Matthew ist dem König treu ergeben, das alles ist lange her, und der neue König lässt ja auch solchen Aufruhr nicht zu.«
    Tapfer versuchte Amicia zu nicken, derweil ihr Herz weiterraste. Dolasilla strich ihr über den Arm. »Willst du, dass wir beide zum Hausaltar gehen und für Matthew beten?«, fragte sie.
    »Oh ja, bitte«, murmelte Amicia. Erst als Dolasilla sie bei der Hand nahm und durchs

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