Kains Erben
Kammern oder Schankräumen, aneinandergeklammert wie ein einziges Wesen. Wenn Amicia aus einem ihrer grauenhaften Träume schreckte, war Vyves bei ihr, sprach beruhigend auf sie ein und streichelte mit den Lippen ihr Haar. Es dauerte Tage, bis sie wirklich miteinander reden konnten, bis das Staunen darüber, dass der andere da war, ganze Sätze zuließ. In der Zwischenzeit hatten sie ihre Berührungen, ihre Blicke, zuweilen ein Wort und zuweilen sogar ein Lächeln.
Als schon deutlich wurde, wie die Landschaft um sie das lieblichere Gesicht des Südens annahm, das ihnen beiden aus der Kindheit vertraut war, fanden sie endlich ihre Sprache wieder. Hilfreich war, dass sie Vyves nichts zu erzählen brauchte. Er wusste beinahe alles, hatte keine Ruhe gefunden, ehe er jede Einzelheit in Erfahrung gebracht hatte. Er hatte Toms Gasthaus aufgespürt und von den Wirtsleuten erfahren, was ihr geschehen war. »Du warst bei Dolasilla?«, rief Amicia. »Hast du von Stephen gehört? Geht es ihm gut?«
»Dem jungen Mann, der dich nach Yorkshire gebracht hat? Ich glaube, es geht ihm blendend«, erwiderte Vyves. »Auch wenn seine Mutter ihn nur selten zu Gesicht bekommt. Für ihn hat sich ein Traum erfüllt: Er hat in Wales gekämpft und ist dafür zum Ritter geschlagen worden, obwohl er seiner Geburt nach kein Anrecht darauf hatte.«
Amicia war vor Freude außer sich. Wenn überhaupt ein Mann den Ritterschlag verdiente, dann war es Stephen, der dem Stand mehr als Ehre machen würde. Andere Männer hatten diese Auszeichnung ohne Verdienst erhalten und ihr nichts als Schande gebracht. So war es immer: Über jeden heiteren Augenblick deckten sich unverzüglich schwarze Gedanken. Sie hatte noch immer keine Tränen, und das Grauen in Worte zu fassen war entsetzlich schwer. Aber Vyves hatte die Wahrheit verdient. »Ich muss dir noch etwas sagen«, zwang sie sich stockend ab. »Etwas, das Dolasilla und Tom dir nicht erzählen konnten und das schlimmer als alles ist: Diesen Satan, den Verräter, der Abel auf dem Gewissen hat …«
»Du musst es mir nicht sagen«, versuchte Vyves sie zu beruhigen.
»Doch, das muss ich, ich schulde es dir!«
Er küsste ihr Haar. »Ich weiß es doch. Du hast diesen Mann geliebt. Das ist kein Verbrechen, Amicia.«
»Verletzt es dich nicht?«
»Mich verletzt, was dir zugefügt worden ist«, sagte er. »Und wie steht es jetzt?«
»Was meinst du?«
»Wenn du jetzt an ihn denkst – was empfindest du?«
»Er ist tot.« Ihre Stimme klang dumpf. »Wenn er es nicht wäre, würde ich gehen und ihn töten.«
»Amicia …«, begann er abwartend.
»Was ist?«
»Wenn er tot wäre, wäre er für dich gestorben.«
Etwas Grelles zuckte vor ihrem geistigen Auge auf. Amicia sah wieder das Schlachtfeld, das Blut und die Toten. Den Mann, der neben dem Hund stand und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Derselbe Mann hatte sie in den Armen gehalten, dass kein Atemzug zwischen sie passte, hatte ihr ins Ohr geflüstert, sie sei das zauberhafteste Geschöpf der Welt, und hatte dabei immer gewusst, dass er ihren Bruder getötet hatte und dass seine Leute darauf warteten, auch sie zu töten. Amicia schlang die Arme um ihren Leib. »Ich will nicht über ihn sprechen, Vyves! Nie wieder.«
»Du brauchst es nie wieder zu tun«, versprach er. »Darf ich dir bitte nur noch eine einzige Frage stellen?«
Sie wollte »Nein!« rufen, nickte aber, weil sie fand, sie habe kein Recht, es ihm zu verweigern.
»Wann hast du dich erinnert? An damals, meine ich. An Abels Tod und an Matthew de Camoys.«
»Auf dieser Wiese«, erwiderte sie verstört. »Als ich die Ritter mit seinem Wappen gesehen habe, die uns niedermachten. So wie damals, Vyves. Genau wie damals – und ich lag wieder nur da und konnte nichts tun.«
Er streichelte sie. »Hast du das damals klar gesehen?«, fragte er sanft. »Wer es war, der Abel gestoßen hat?«
Statt einer Antwort ballten sich in Amicias Kopf nur Nebel. Die Frage schien keinen Sinn zu ergeben. »Spielt das eine Rolle? Sind nicht alle Mörder: die, die stoßen, und die, die dabeistehen und es dulden?«
»Vielleicht nicht, wenn einer von ihnen vor Entsetzen gelähmt gewesen wäre wie du«, erwiderte Vyves langsam. »Wenn er jung gewesen wäre. Kaum älter als ich.«
Seine Worte blieben inhaltsleer, Amicia bekam sie nicht geordnet. Stattdessen fiel ihr etwas anderes ein. »Vyves, als der Mörder zu Eurem Haus kam, um mich zu holen – hast du ihn nicht erkannt?«
Vyves wich ihrem Blick nicht
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