Kains Erben
gesandt hatte.
Im ersten Augenblick war sie enttäuscht, weil die Zeilen nicht auf Lateinisch abgefasst waren, sondern in einer Sprache, die sie nicht lesen konnte. Dann fand sie eine Handvoll Worte, die sie verstand. Mit dem nächsten Blick erkannte sie das Ganze wieder, und ihre Eingeweide krampften sich zusammen.
»Das kenne ich«, sagte Vyves.
Mehr hörte Amicia nicht, denn ihr Schrei übertönte seine Stimme, und das Lied, das ihr durch den Kopf hallte, übertönte ihren Schrei. Einmal hatte sie gedacht: Wenn der Himmel tatsächlich ein Torhaus hat, dann muss dieses Lied dort gesungen werden. Es war die innigste Lobpreisung und die innigste Bitte um Hilfe zugleich, und die Stimme, die es gesungen hatte, klang, als hätte der Himmel sie verschenkt. Sie war strahlend, voll Kraft und hielt nichts zurück. Wie konnte ein Mensch so singen und Verrat und Tod in sich tragen? Wie hatte er an ihrer Seite so singen können, zu ihren Füßen der Habicht, den sie gemeinsam betrauert hatten, und vor ihnen eine Welt, die im ersten Tagesglanz leuchtete, die beseelt von Liebe, Glück und Zukunft war?
Sie kam zu sich, weil Vyves ihr die Hand auf den Mund presste. »Amicia!«, rief er, »Amicia, um alles in der Welt, beruhige dich doch! Das ist nichts, um vor Angst zu schreien. Es ist wunderschön, und man muss nicht einmal Christ sein, um das zu bemerken. Willst du, dass ich dir sage, was es bedeutet? Es ist in umbrischem Italienisch geschrieben, einer Sprache einfacher Leute, aber es kursieren lateinische Übersetzungen davon.«
Willenlos sackte Amicia in seinen Armen zusammen. Er gab dem Reiter, der sie begleitete, ein Zeichen, sich nicht zu sorgen, und bettete sie auf seine Knie. »Dieses Lied heißt Lobgesang der Geschöpfe «, sagte er. »Ein Mann hat es geschrieben, der davon träumte, ein Ritter zu werden. Nachdem er es erlebt hatte, ertrug er das Schlachten jedoch nicht länger. Fortan suchte er die Einsamkeit und ein Leben nah bei seinem Schöpfer. Er liebte Gott in der Natur, in den Tieren, deren Sprache er verstand, in den Gestirnen und in uns. Wie deine Zisterzienser hat er einen Orden begründet, der sich wie ein Feuer über Europa verbreitet und inzwischen sogar Päpste stellt. Francesco war sein Name, er stammte aus der Stadt Assisi. Er hat dieses Lied geschrieben, als er starb, um sich für sein Leben zu bedanken. Ist es nicht schön, Amicia? Es ist nicht Bestandteil meines Glaubens, aber ich wünsche mir dennoch, am Ende meines Lebens so zu beten.«
Er wandte das Gesicht dem Himmel zu und sprach die Worte in der Übersetzung vor sich hin:
Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester, den Mond und für die Sterne,
Die du am Himmel geformt hast, hell und kostbar und schön.
Gelobt seist du, mein Herr, für unseren Bruder, den Wind,
Für die Luft, die Wolken, die Heiterkeit und alles Wetter,
Durch das du deinen Geschöpfen Nahrung gibst.
Sie sahen einander an. Längst hatte er seine Hand von ihrem Mund genommen, und längst hatte sie aufgehört zu schreien. Als etwas unter ihrem Auge ihre Sicht störte, wollte sie es wegreiben und ertastete Nässe.
»Amicia?«
Sie nickte.
»Wer hat denn dieses Lied für dich gesungen?«
Als sie nichts sagte, strich er ihr zart eine Haarsträhne zurück in das Gebende, das sie in ihrer Rolle als verwitwete Mutter trug. »Sieh einmal nach vorn«, riet er ihr weich. »Vielleicht willst du dann ja von diesem Karren auf dein Pferdchen steigen und uns weit vorausgaloppieren, wie du es als Kind getan hast. Ich habe dir immer nachgesehen, aber ich hätte dir niemals folgen können.«
Amicia fuhr herum und sah im Licht der sinkenden Sonne die glitzernde Fläche, die sich viel weiter erstreckte als jedes Feld, jeder See, jede Wiese und selbst die Stadt London. Erst am Horizont zeichnete sich zwischen dem Dunkelgrau des Meeres und dem sich rötenden Blau des Himmels ein Streifen Land ab. Sie und Vyves sagten beide kein Wort, sondern starrten reglos in dieselbe Richtung. Was immer geschah, was immer ihnen bevorstand, sie waren auf dem Weg nach Hause.
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M
it der Wahl von Bruder Alban, dem erst kürzlich ernannten Novizenmeister, hatte das Abteikapitel eine glückliche Hand bewiesen. Alban war ein Mann in mittleren Jahren, der auf die Neulinge beruhigenden Einfluss ausübte und Verstörungen mit Wärme und Lebensklugheit auffing. Vor allem war er ein Mann, dem nichts Menschliches fremd war und der auch dann keine Fragen stellte, wenn es ihm gestattet war. Als Randulph
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