Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Krähe flog auf das Fenstersims und lachte ihn aus.
Möhringer schrieb Reiseführer. Popinga, sein Chef, hatte ihn nach Holzwickede geschickt. »Holzwickede muss überarbeitet werden«, hatte er gesagt. Möhringer kannte den Ort. Er hatte ihn schon vor Jahren erkundet.
Nun saß Möhringer im Frühstücksraum der Kronenschänke und schmierte sich Butterbrote. Es war Sonntag, der 1. April.
»Haben Sie die Quelle besucht?«, fragte die Pensionswirtin Frau Tanzer. Auf ihrem Trainingsanzug war das Gemeindewappen aufgenäht. Rauchend stand sie im Thekenraum und blies den blauen Dunst zu ihm herüber. »Warum stehen wir eigentlich auf, wenn wir noch müde sind?«, fragte sie gähnend.
Die Gaststätte war seit Jahren geschlossen. Der einzige Gast war der Papagei, der eine Ente nachmachen konnte. »Wak, Wak, Wak«. Möhringer hatte aus Schreck das Toastbrot fallen lassen. Natürlich fiel es mit der Marmeladenseite nach unten.
»Daran ist die EU schuld«, sagte Frau Tanzer und band bunte Plastikeier an den Papageienkäfig. »Seitdem Tische fünfundsiebzig Zentimeter hoch sein müssen, klatschen die Brote immer mit der Marmeladenseite auf. Ist das nicht traurig?«
Möhringer nickte. Er stellte sich vor, wie er Brandt von der Carolinenbrücke stoßen würde und der statt auf den Po auf das Gesicht knallte.
Natürlich kannte er die Emscherquelle. In einer Stadt, die mit dem Slogan wirbt: ›Holzwickede – Emscher und mehr‹, ist man schon auf die Highlights angewiesen. Heute wollte er das ›Mehr‹ erkunden. Er schaute aus dem Fenster in den Garten. Nach dem Nachtregen schien nun die Sonne. Am blauen Himmel tummelten sich weiße und graue Wolken. Es war trotzdem kalt. Ein Mann schabte Eis von der Windschutzscheibe seines Autos. Möhringer weilte seit einigen Tagen in ›Entenhausen‹. Die Kälte hatte ihn überrascht. Holzwickede zeigte sich von seiner Aprilseite. Missmutig saß er später in seinem Zimmer und machte sich Notizen. Ein Tourist wollte genau wissen, was ihn erwartete, sonst konnte er gleich im Internet wandern.
Holzwickede ist mehr als eine Gemeinde mit Qualität. Hier leben Menschen und Tiere in Frieden zusammen. Enten, Krähen, Hunde und Katzen teilen ihren Lebensraum mit Einheimischen und Gästen. Das fröhliche »Arg, Arg« der Krähen mischt sich mit den lockenden Klängen der Kirchenglocken. Kein Wunder, dass der Internationale Hundesportverein , die Fischfreunde Holzwickede und der TUS Elch 1963 regen Zulauf haben …«
Möhringer gähnte und steckte sich eine neue Zigarette an. So ging das nicht. Er musste den neuen Reiseführer anders aufpeppen. Er sollte doch noch einmal die Emscherquelle besuchen und sie mit neuen Augen entdecken.
Möhringer war der erste Mitarbeiter von Junges Wandern gewesen. Popinga, der Einarmige, hatte den Verlag mit Geld aus einer Erbschaft gegründet. Gleich das erste Wanderbuch, das er herausgegeben hatte, wurde ein Erfolg. Junges Wandern war ein kleiner Verlag. Er finanzierte sich nicht nur durch den Verkauf der Bücher, sondern durch die Anzeigen von Spazierstockfirmen, Wanderschuhgeschäften und Reisebüros darin. Popinga hatte Möhringer gefragt, ob er für ihn arbeiten wollte. Er hatte in der Schule neben Popinga gesessen und ihn immer abschreiben lassen. So etwas verbindet. Daher zögerte er keine Sekunde, erklärte »Ich nehme das in die Hand« und ging auf Reisen.
Das fiel ihm leicht, denn seine Frau hatte ihn gerade verlassen. Sie hatte, so sagte sie, einen Mann kennengelernt, der besser zu ihr passte. Erst später erfuhr Möhringer, dass Popinga dieser Mann war, der seiner Ex den Hof machte. Ihm konnte es recht sein. Weg ist weg. Und er war ohnehin unterwegs.
Holzwickede kann sich sehen lassen. Hier rollt der Ball. Dort, wo sich Mensch und Ente heimisch fühlen, kann man auch gutes Brot kaufen. Liegt es an der Erbsensuppe der Fleischerei Vonhoff oder dem Mahnmal gegen den Krieg im einladenden Emscherpark? Alles lädt zum Verweilen ein, zur kurzen Rast, zur kleinen Sinnpause.
Möhringer riss den Zettel aus dem Block und zerknüllte ihn. Er musste sich konzentrieren. Wo war er nur mit seinen Gedanken? Das Mahnmal stand schon längst in Münster. Er musste auf den neuen Bouleplatz hinweisen. Er musste auf Veränderungen eingehen. Er musste über Dinge schreiben, die die Stadt noch lebenswerter machten. Er wollte das französische Flair der Emschergemeinde erkunden. Die Kulturtage erwähnen, den Weihnachtsmarkt hervorheben, die neue Brücke preisen.
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