Kaltduscher
Pfote Richtung Klinke reckt. Deswegen beschließt Amelie, dass keine Zeit mehr ist, ein Versteck für mich zu suchen, oder, besser gesagt, sie beschließt, dass das, wo ich jetzt bin, mein Versteck ist. Es geht so schnell, dass ich erst in dem Moment kapiere, was passiert ist, als ich schon unsichtbar bin.
»Hey Julia! Komm rein.«
»Hallo Amelie, tschuldige, es ist nur…«
»Setz dich erst mal… äh, willst du Tee? Ich hab mir gerade einen gemacht, hm, ach, und irgendwie hab ich mir gleich zwei Tassen geholt. Hab wohl gespürt, dass du mich besuchst, hihi.«
»Hihi. Wollen wir nicht dein Bett runterklappen?«
»Du, ich hab mir überlegt, ich will das nicht mehr, dass immer alle auf meinem Bett sitzen. Ich schlaf ja da schließlich auch. Deswegen klapp ich es jetzt immer hoch. Ich hab ja auch noch die Sitzkissen hier.«
»Kann ich verstehen. Aber hol dir doch einfach eine Tagesdecke.«
»Stimmt, könnt ich auch machen…«
Also, ich bin wirklich nicht unglücklich darüber, dass Amelie mich in ihr Schrankbett eingeklappt hat. Es war die beste Lösung für die Situation und in jeder Hinsicht eine reife Leistung von ihr. Einerseits natürlich die Reaktionsgeschwindigkeit, und andererseits hatte sie auch einiges an Gewicht zu stemmen. Zum Glück hat so ein Schrankbett wenigstens starke Federn, die beim Einklappen mithelfen.
Für jemanden mit Platzangst wäre meine Situation natürlich der reine Horror, aber ich habe keine Platzangst. Nicht mal andeutungsweise. Von daher, nein, keine grundsätzlichen Beschwerden. Es gibt nur ein paar Details, die nicht perfekt sind, die sich aber im Moment nicht ändern lassen. Als allererstes wäre da die Tatsache, dass ich mit dem Kopf nach unten hänge. Und dazu kommt, dass der Druck, mit dem mich die Matratze gegen die Schrankrückwand presst, nicht ganz ausreicht, um mich wirklich festzuklemmen. Ich rutsche Zentimeter für Zentimeter weiter nach unten. Und nicht nur das. Ich rutsche Zentimeter für Zentimeter weiter aus Amelies Bademantel heraus. Im Moment ist das zwar völlig wurscht, weil mich keiner sieht, aber es könnten heute immerhin noch Situationen eintreten, in denen es nicht schlecht wäre, wenn der Bademantel korrekt sitzen würde…
»Okay, Amelie, ich muss dir was sagen. Er hat nicht angerufen. Ich bin jetzt echt ziemlich… also, das hat doch keinen Sinn mehr… ich meine, was soll ich denn…«
»Warte, Julia, warte! Ich kann dir alles erklären… es… es ist nur sehr kompliziert…«
Bis ich ganz unten angekommen bin, ist auf jeden Fall noch einiges an Rutschstrecke zu absolvieren. Mein ausgestreckter rechter Arm kann jedenfalls noch keinen Boden ertasten. An meinem anderen Ende fühle ich wiederum, dass ich meinen rechten Fuß als einzigen Körperteil frei bewegen kann. Das kann nur heißen, dass er noch oben rausragt. Und das heißt wiederum, wenn Julia dort hinschaut, sieht sie, wie mein Fuß, von meinem übrigen Körper mitgezogen, wie der Großmast eines sinkenden Segelschiffs Zentimeter um Zentimeter weiter in Amelies Bettschrank verschwindet. Hoffentlich hat Amelie sie so platziert, dass sie Richtung Fenster schaut. Gerade an den Rändern des Blickfelds kann der Mensch ja besonders gut auch kleine Bewegungen erkennen, hab ich mal gelesen.
»Oh, ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, Julia… Also ich war heute bei den Jungs, um meine Sachen von Gonzo zu holen, und hab bei Krach reingeschaut und ihn gefragt, warum er dich weggedrückt hat, und es war nur, weil er gerade bei Proben war und nicht hingeschaut hat, und er wollte dich auf jeden Fall anrufen, wenn du aus dem Seminar…«
»Na toll! Hat er aber n…«
»Warte, es ist nicht seine Schuld. Ich… Also, er musste so ein Sesamstraßenlied proben. Für einen Aufnahmetermin morgen. Und das war zufällig das Lied… na ja, das ich früher immer zusammen mit meinem Papa zum Einschlafen mit dem Kassettenrecorder mitgesungen habe…«
»Schon wieder ein Lied? Moment, Amelie, sag jetzt bitte nicht…«
Nein, ich darf mich nicht durch das Gespräch ablenken lassen. Ich muss jetzt einfach nur schleunigst meine Rutschpartie beenden. Es geht immer schneller abwärts, und wenn ich nichts dagegen unternehme, gibt das ein saftiges und gewiss nicht zu überhörendes »Wump«, wenn ich unten ankomme. Und beim Bademantel ist eh schon alles zu spät. Den trage ich inzwischen nur noch um die Knöchel. Ich muss irgendwas Festes zu fassen bekommen…
»Doch, Julia, genau in dem Moment hab ich
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