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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Beschreibung, die Smitty nichts ausmachte. Aber bei seiner Mutter wollte er instinktiv nicht, dass sie herausfand, was er so trieb. Und was seine Oma anbetraf – falls er zu ihr gesagt hätte: »Ich bin ein Konzeptkünstler, der sich auf provokative temporäre standortspezifische Installationen spezialisiert hat«, dann hätte er ihr genauso gut erzählen können, dass er Boxweltmeister im Schwergewicht war. Sie hätte genickt und »Das ist ja wunderbar, mein Schatz« gesagt und wäre ehrlich stolz auf ihn gewesen, ohne dass sie es für nötig befunden hätte, nach Details zu fragen. Sie war gut darin, die Dinge einfach so hinzunehmen, ein bisschen zu gut vielleicht, fand Smitty.
    Wie auch immer, jetzt war er jedenfalls hier. Pepys Road. Smitty war mit der U-Bahn gefahren. Er hätte zwar auch problemlos mit dem Auto kommen können, schließlich liebte er seinenBMW über alles, aber er hatte das Gefühl, dass ihm mehr Ideen kamen, wenn er mit der U-Bahn fuhr und während der Fahrt die Leute beobachtete und sich fragte, wie man ihnen wohl am besten in den Kopf schauen konnte. Das war ein wesentlicher Teil dessen, worum es sich bei Kunst überhaupt drehte – herauszufinden, was in den Köpfen der Leute so vor sich ging.
    Als Smitty an der Tür klingelte, konnte er seine Oma im Innern des Hauses herumwerkeln hören. Das war typisch für sie – sie setzte immer das Wasser auf, bevor sie die Tür öffnete. Dann kochte es schon, wenn sich der Besuch gerade erst hingesetzt hatte. Die Tür ging auf, und da stand sie.
    »Oma!«, sagte Smitty.
    »Graham!«, sagte seine Oma, denn das war Smittys richtiger Name. Er gab ihr eine Schachtel Pralinen. Es waren wahnsinnig teure Pralinen, die sein zukünftiger Ex-Assistent in irgendeinem tuntigen Laden in West London ausfindig gemacht hatte. Es würde seiner Oma nicht auffallen, wie unglaublich edel die Pralinen waren. Deswegen hatte er auch keine Hemmungen gehabt, sie ihr zu schenken. Hätte er die Schachtel seiner Mutter geschenkt, dann hätte sie ihn sofort in ein Verhör genommen, für das man sich auch in Abu Ghraib nicht geschämt hätte, und hätte wissen wollen, wie viel sie gekostet haben und ob er sich so was überhaupt leisten konnte.
    »Ich habe das Wasser aufgesetzt«, sagte seine Oma. Sie gingen in die Küche, Smittys Lieblingsraum im ganzen Haus, oder möglicherweise in der ganzen Welt. Wenn man sie betrat, war es genauso, als hätte man eine Zeitreise in das Jahr 1958 gemacht. Linoleum – Smitty liebte Linoleum. Eine Gedenk-Keksdose anlässlich der Krönung Elisabeths. Ein richtiger Teekessel, einen, den man noch auf den Herd stellte, und nicht so ein elektrischer Müll. Der abgewrackteste Kühlschrank der Welt. Keine Spülmaschine. Sein Großvater war zu geizig gewesen, eine zu kaufen, und als seine Oma nach seinem Tod ganz allein war, lohnte es sich nicht mehr, weil es nicht genug zum Spülen gab.
    Seine Oma bewegte sich nicht mehr ganz so mühelos wie sonst. Wie alt war sie jetzt eigentlich, dreiundachtzig nächstes Jahr? Sie hatte nie viel Platz beansprucht, aber körperlich hatte sie immer einen ziemlich robusten Eindruck gemacht. Diese Veranlagung gab es in beiden Zweigen der Familie. Aber sie wirkte dünner, gebrechlicher, und jetzt, wo er genauer hinschaute, auch etwas unsicher auf den Beinen. Wahrscheinlich war es ganz schlicht und einfach das Alter. Die Leute sagten, vierzig sei das neue Dreißig und fünfzig sei das neue Vierzig und sechzig das neue Fünfundvierzig, aber niemand sagte jemals, achtzig sei das neue Irgendwas. Achtzig war einfach nur achtzig.
    Smitty spürte den Drang, sie am Arm zu fassen, um ihr die eine Stufe in die Küche hinunterzuhelfen, aber er widerstand der Versuchung. Sie sprach gerade darüber, wie sie ihre meisten Einkäufe jetzt übers Internet erledigte, wie seine Mutter das für sie arrangiert hatte und was das für ein Segen war. Obwohl sie es nicht gut fand, wie viele Plastiktüten der Lieferservice benutzt hatte, manchmal eine ganze Tüte für einen einzigen Gegenstand, aber seine Mutter hatte ihr gesagt, dass sie die Plastiktüten auch wieder mitnehmen würden, und sie hatte nachgefragt, und es stimmte, und das war auch ein Segen. Smitty hörte dem Ganzen nur halb zu.
    »Du kannst heutzutage alles im Internet kaufen, Oma. Ein Freund von mir ist nach Los Angeles gezogen, nach Amerika, sechstausend Meilen weit weg. Vor seiner Abreise hat er seine Wohnung und sein Auto verkauft und mit seiner Freundin Schluss gemacht. Dann

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