Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
verwunderlich, denn die Polizei musste auch vor Ort nach Beweisen suchten. Ich wusste zwar, dass ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, dennoch ging ich die Court Street hoch und sah nach, was sich dort tat.
Sowohl der Haupteingang als auch das Pfarrhaus waren mit gelbem Absperrband gesichert. Dahinter standen Streifenpolizisten.
»Was ist hier los?«, fragte ich den nächstbesten Polizisten.
»Gehen Sie bitte weiter, Ma’am.«
Ich lief zu dem Nebeneingang in der Congress Street und wiederholte meine Frage.
»Gehen Sie weiter, Lady.«
Mein Blick fiel auf den verschneiten Innenhof und die Bleiglasfenster, hinter denen mehrere Personen ihrer Arbeit nachgingen und das Gebäude durchsuchten. Ich erkannte eine junge Frau mit geblümten Stiefeln wieder; ich hatte sie im Besprechungszimmer der SOKO gesehen. Bestimmt kämmte sie das Gebäude schon mehrere Stunden durch ... Was hätte ich darum gegeben, da drinnen Mäuschen zu spielen!
Ich beschloss, bei Billy vorbeizuschauen. Dass er immer noch nicht erreichbar war, bereitete mir Sorgen.
Auf dem Weg schickte ich Mac eine SMS und teilte ihm mit, was ich vorhatte. Ich ging die Bergen Street hoch, überquerte die 3rd Avenue und kam an einer ganzen Reihe neuer luxuriöser Apartmenthäuser zwischen zwei sanierten Sandstein-Vierteln vorbei. Billy wohnte auf der anderen Seite, am Rand von Park Slope.
»Karin!«
Ich drehte den Kopf. Mac kam keuchend zu mir gelaufen.
»Ich dachte, du sitzt an deinem neuen Fall?« Dieser Auftrag unterschied sich keinen Deut von seinen früheren: ein untreuer Ehemann, eine aufgebrachte Ehefrau, eine drohende Scheidung, Verbitterung auf beiden Seiten.
»Vor lauter Sorge um Billy kann ich mich nicht konzentrieren. Und außerdem ... Mary ist im Büro. Die hat es echt drauf. Ich habe sie darauf angesetzt, ein paar Spuren nachzugehen. Die Frau ist ein wahres Naturtalent.«
Wir überquerten die 4th Avenue und gelangten zu Billys Block. Er wohnte nur einen Katzensprung von der 5th Avenue entfernt, am St. Mark’s Place in einem Erdgeschoss-Studio eines Sandsteinhauses. Das Gebäude hatte eine doppelflügelige blaue Eingangstür, die ins Foyer und zu den oberen Stockwerken führte. Doch Billys Wohnung hatte einen separaten Eingang. Wir öffneten das Tor zum Wohnkomplex und überquerten einen kleinen Vorhof, auf dem Mülltonnen standen. Dann stiegen wir ein paar Stufen hinunter und läuteten bei Billy. Keine Reaktion.
Ich spähte durch das vergitterte Fenster und klopfte an die Scheibe. »Billy? Bist du da? Billy?«
»Brennt da nicht Licht?«, sagte Mac und guckte angestrengt durch die Scheibe. Ich hatte den Eindruck, dass im Wohnzimmer eine Lampe brannte, doch da sich die Sonne im Fenster spiegelte, war ich mir nicht ganz sicher. »Ich glaube, er ist da. Wir sollten unbedingt nachsehen, ob ihm etwas passiert ist.«
Seit Billys Einzug war das Schloss seines Türgitters defekt. Mac öffnete es und holte ein Handpickset heraus, das er immer bei sich trug, seit er sich selbständig gemacht hatte. Ich wartete, während er sich an dem Schließzylinder zu schaffen machte. Nach einigen Versuchen ging die Tür endlich auf. Mac betrat zuerst das Apartment. Ich folgte ihm und schloss die Tür.
Die Wohnung bestand aus einem großzügigen, offenen Raum: Der Wohnbereich ging zur Straße hinaus, der Schlafbereich zum Garten, dazwischen lag die Küche. Zwei halbhohe Wände trennten die Bereiche voneinander, ohne das Gefühl von Weitläufigkeit zu mindern.
Bangen Herzens schaute ich mich in der Wohnung um. Weder Mac noch ich hatte es laut ausgesprochen, aber wir waren nur aus einem einzigen Grund hier: weil wir fürchteten, dass Billy angesichts seiner Misere kapituliert und sich das Leben genommen hatte. Nach Steve Campbells Selbstmord schien auf einmal alles möglich. Dass Billy unter PTBS litt und George Vargas und La-a ihn verdächtigten, machte ihm das Leben nicht leichter. Obwohl wir beide von seiner Unschuld überzeugt waren, nagte ein leiser Verdacht an uns, den es auszuräumen galt.
Wir öffneten Schränke, schauten hinter Vorhänge, knieten uns auf den Boden und spähten unter Billys Bett.
»Er ist nicht da«, konstatierte Mac.
»Was ist das da?« In einer Ecke des Schlafbereichs lag eine große Einkaufstüte mit Kleidern. Ich zog das oberste Stück heraus: ein tief ausgeschnittenes rotes Oberteil, auf dessen Vorderseite ein Auge aus Glitzersteinen prangte. Das Material war billig, der Saum aufgerissen, der Ausschnitt mit
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