Karma Girl
gemeinsamen Mahlzeiten wurden auch etwas ganz Besonderes: Meine Eltern begeisterten mich plötzlich mit Geschichten über Verwandte, die in Indien als echte Freiheitskämpfer unterwegs gewesen waren; und ich fesselte meine Eltern mit Geschichten über Indien, die sie entweder noch nie gehört oder schon wieder vergessen hatten.
»Shampoo kommt also aus dem Sanskrit?«, fragte mein Vater eines Morgens ungläubig beim Frühstück.
»Genauer gesagt von dem Hindi-Wort ›champee‹, das so viel wie ›massieren‹ bedeutet«, erklärte ich stolz.
So viel stand fest: Wenn irgendjemand Experte in Sachen indische Geschichte werden würde – dann ich!
22. KAPITEL
Eine fremde Sprache
Pünktlich zum Tag der Konferenz war ich bereit. Ich wusste nun, dass Indien aus 25 Bundesstaaten (und sieben Unionsterritorien) bestand, dass fast zwei Dutzend größere Sprachen gesprochen wurden (von denen Hindi, das von etwa einem Drittel der Bevölkerung gesprochen wurde, die verbreitetste war) und dass der Hinduismus die Religion mit der größten Glaubensgemeinschaft war und von etwa vier Fünftel der Bevölkerung praktiziert wurde (andere Religionen waren unter anderem der Islam, das Christentum, Buddhismus, Sikhismus und Jainismus). Ich hatte nicht nur Gandhis Geburtstag parat (2. Oktober 1869), sondern auch den Tag, an dem er erschossen wurde (30. Januar 1948). Ich kannte die Namen der vier hinduistischen Kasten (Brahmanen = Priester, Kschatrijas = Krieger, Waischjas = Bauern, Schudras = Knechte). Und ich trug ein Bindi.
Gwyn, die mir gegenübersaß, hatte einen Ausdruck von Entschlossenheit in ihrem Blick, dass mir angst und bange wurde. Sie trug ebenfalls ein Bindi.
Wir fuhren mit der Bahn in die Stadt. Geplant war, dass wir bei Kavita und Sabina übernachten und am nächsten Tag mit meinen Eltern nach einem gemeinsamen Mittagessen nach Hause fahren würden. Doch heute sollte ich erst einmal eine »schöne Zeit mit Karsh verbringen«, wie sich meine Eltern ausgedrückt hatten (dass wir dabei in einem Hörsaal zusammen mit unzähligen anderen Leuten sitzen würden, erwähnten sie nicht).
»Sehe ich wirklich okay aus?«, fragte mich Gwyn zum – was kommt noch mal nach billionsten? – Mal.
Sie sah ganz und gar nicht okay aus: An diesem noch jungen Morgen sah sie vielmehr aus wie eine Sonnengöttin und ihre Schönheit wurde durch mein Geburtstagsoutfit auch noch verstärkt. Meine Mutter hatte eingewilligt, es ihr für die Veranstaltung auszuleihen, und zwar von den Chappals bis zur Dupatta, denn ihrer Meinung nach war es besser, wenn ich nicht zweimal hintereinander darin gesehen werden würde.
Ich selbst trug ein Hemd mit Paisleymuster und Jeans. Da ich in meinen Studien gelernt hatte, dass das Paisleymuster seinen Ursprung in Indien hat, hatte ich meine Mutter davon überzeugen können, dass diese Aufmachung immer noch traditionell genug war. In Wahrheit konnte von einem indischen Outfit überhaupt keine Rede sein, schließlich war das Hemd »Made in Taiwan«, wie man auf dem Etikett lesen konnte. Aber immerhin stimmten die Fakten drum herum.
Als wir ins Foyer des Hörsaales traten, konnte man die allgemeine Aufregung förmlich spüren, so viele Menschen waren dort. Wir trafen Kavita wie verabredet am Eingang des Saales, und als wir mit unseren Program men in den Händen den Saal betraten, blieb mir fast das Herz stehen. Wir standen oben im Auditorium, dessen Sitzreihen sich bis tief nach unten zum Podium erstreckten. Dort stand eine Frau, die indisch aussah, aber mit einem dominanten Jersey-Akzent sprach, der mir glücklicherweise erspart geblieben war, vermutlich weil meine Eltern noch einen starken indischen Akzent hatten.
Entscheidend aber war, dass der Saal mehrere hundert Plätze hatte. Und dass alle besetzt waren!
Wir suchten unsere reservierten Plätze und setzten uns. Ich versuchte, Karsh zu entdecken, konnte aber wegen der ungeheuren Masse an Menschen keine einzelnen Gesichter erkennen. Schnell sah ich in meinem Programm nach, ob er überhaupt als Redner gelistet war. Ich fand zunächst Sabinas Namen und dann, etwas weiter unten, Karshs, der, wie offenbar auch DJ Tamasha, deren Name darüber stand und die anscheinend in Wahrheit Shailly hieß, eine Rede zum Thema »DJ – Schamane oder Schelm: Über die Schwierigkeiten der nonverbalen Kommunikation« halten wollte. Übrigens hatten alle Titel im Programm einen Doppelpunkt und einen Untertitel. Außerdem waren ziemlich viele Frauen als Redner eingetragen und das
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