Karneval der Alligatoren
stieg darüber hinweg und ging zum Balkon vor. Ein bißchen Luftzug
kam hier herein, Kerans ließ ihn sich über Gesicht und Brust wehen und sah in
die Dschungellandschaft zu seinen Füßen. Das Vorgebirge, auf dem diese im
Halbkreis angeordneten Häuser einst standen, war nicht mehr zu erkennen – man
ahnte es nur an den auch jenseits der Sandbank noch hoch aus dem Wasser
ragenden Gebäudeteilen. Die zwei Uhrtürme ragten wie weiße Obelisken aus dem
Farndickicht hervor. Die gelbe Mittagsluft drückte sich wie eine riesige
durchsichtige Decke auf das Blattwerk; wo immer sich etwas bewegte, sprühten
tausend Lichtfünkchen auf, das Sonnenlicht reflektierende Diamanten. Die eine
Uhr war um elf Uhr fünfunddreißig stehengeblieben – Kerans überlegte, ob sie am
Ende noch ging, von einem verrückten Einsiedler betreut wurde, der sich an
dieses letzte, sinnlos gewordene Zeichen der Normalität anklammerte. Wenn der
Mechanismus einer Uhr noch in Ordnung war, übernahm Riggs manchmal diese Rolle.
Mehrmals schon hatte er vor dem Verlassen einer versunkenen Stadt den zwei
Tonnen schweren Apparat einer rostigen Kirchenuhr in Gang gesetzt, und sie
waren zu den Klängen eines letzten Glockenspiels abgefahren. Nächte danach sah
Kerans oft in seinen Träumen Riggs als Wilhelm Tell verkleidet in einer weiten
Landschaft herumstapfen und riesige Sonnenuhrstäbe wie Schwerter in den Sand
stoßen.
Die Minuten vergingen, die Zeiger auf
dem Turm blieben unbeweglich. Oder doch nicht? War die Bewegung so langsam, daß
sie dem menschlichen Auge verborgen blieb? Je langsamer eine Uhr ging, um so
näher kam sie wohl der majestätisch voranschreitenden kosmischen Zeit – ja,
wenn man eine Uhr rückwärts laufen ließ, ginge sie dann nicht noch langsamer
als das Universum und wäre somit Teil eines noch größeren Raum-Zeit-Systems?
Sein Spaß an diesen Überlegungen
wurde plötzlich durch eine für ihn schaurige Entdeckung getrübt: Auf der
gegenüberliegenden Seite lag ein Friedhof – inmitten von Unrat und Mauerwerk;
Grabsteine und Grabplatten neigten sich einander zu, waren zum Teil schon halb
ins Wasser abgerutscht. Die Erinnerung an einen anderen spukhaften Friedhof
stieg in ihm auf, über dem sie einmal ihr Schiff verankert hatten; die
vielverzierten florentinischen Gräber waren aufgesprungen, Leichen in ihren
sich entfaltenden Totentüchern emporgeschwommen – grausige Generalprobe des
Jüngsten Gerichts. Er wandte den Blick ab und sah sich plötzlich einem großen,
bärtigen Mann gegenüber. Mühevoll sammelte er seine Gedanken, der Mann stand
etwas gebückt, aber durchaus entspannt da, die mächtigen Arme ließ er locker
hängen. Schwarze Schlammkrusten hingen ihm an Stirn und Handgelenken, an
Stiefeln und Drillichhose. Kerans mußte wieder an die auferstandenen Leichen
denken. Das bärtige Kinn hatte der Unbekannte tief auf die Brust gesenkt, seine
breiten Schultern steckten in einer viel zu engen Krankenwärterjacke. Obwohl er
Kerans ansah, schien sein hungrig-intensiver Blick in die Ferne gerichtet zu
sein; seine Augen glühten.
Kerans wartete, bis sich seine Augen
an die Dunkelheit im Hintergrund des Raumes gewöhnt hatten, und sah dann
unwillkürlich in das Schlafzimmer hinein, aus dem der Bärtige gekommen war. Er griff
mit einer Hand nach ihm, bemühte sich aber, den Zauber nicht zu brechen, und
versuchte ihn zu warnen, daß er sich nicht bewegen solle; ein verstehender
Blick voller Sympathie traf ihn jetzt, es war, als hätten sie ihre Rollen
getauscht.
»Hardman!« flüsterte Kerans. Mit
wildem Sprung warf sich Hardman ihm entgegen, bog kurz vor dem Zusammenstoß ab,
sprang auf den Balkon und kletterte über das Geländer, noch ehe sich Kerans
wieder gefaßt hatte.
»Hardman!« schrie einer der Männer
vom Dach, als Kerans eben auf den Balkon gelaufen war. Hardman ließ sich wie
ein Akrobat an der Regenrinne hinunter und kletterte in ein Fenster. Riggs und
Macready rannten zu Kerans auf den Balkon. Riggs hielt seine Mütze fest und
beugte sich wütend fluchend über das Geländer.
»Herrgott, Kerans, Sie hätten ihn
doch fast gehabt!« Sie rannten alle drei in den Korridor zurück, die Treppe
hinunter, vier Stockwerke tiefer sauste Hardman um die Treppenkurven, eine Hand
fest am Geländer, nahm er in gewaltigen Sprüngen einen Absatz nach dem anderen.
Als sie unten angelangt waren, hatte
er eine halbe Minute Vorsprung. Vom Dach schrien die Männer aufgeregt
durcheinander, Riggs blieb bewegungslos auf dem
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